Geographie 022 - Biowaffenprogramm der UdSSR - Organisation

16. August 2018

Schon im Juni wurde in diesem Blog bei der Vorstellung der Persönlichkeit Ken Alibek [1] angekündigt, dass es Artikel zum Thema Biowaffen geben wird. Nun ist es soweit, dass vier Artikel veröffentlicht werden können. Dieser erste Artikel soll als ein erster Überblick dienen. In einem zweiten sollen die Standorte aufgelistet und die komplizierte Verwaltungsstruktur bezüglich des Biowaffenprogramms gezeigt werden und in einem dritten noch auf die Typen von Krankheiten eingegangen werden, die bisher für Waffenprogramme verwendet wurde oder von denen diese Verwendung bekannt ist.

Das Bedürfnis, Artikel zu diesem Thema zu schreiben kam aufgrund der Lektüre des im Jahr 2000 erschienenen Buches Biohazard (deutsch Biologische Gefahr) [2] zustande. Darin kann man einiges über das Biowaffenprogramm der Sowjetunion lernen. Das Buch ist auch in deutscher Übersetzung erschienen, unter dem Titel Bioterror: Tod aus dem Labor [3]. In einer Rezension bei Amazon werden Fehler moniert, die wohl bei der Übersetzung zustande kamen.

Die Titelseite des Buches Biohazard, geschrieben von Ken Alibek [2].

Als Beispiel für einen eher peinlichen Fehler soll am Anfang des Buches von Milzbrandviren die Rede sein, obwohl die Krankheitserreger von Milzbrand (Anthrax) [4] Bakterien der Art Bacillus anthracis [5] sind. In der englischen Version gibt es diesen Fehler allerdings nicht. Solange es sich um solche, einfach zu erkennende Fehler handelt, bin ich meist einigermassen tolerant, denn für ein eher populär und allgemeinverständliches Buch wie das genannte wird man eher nicht einen spezialisierten Wissenschafter mit der Übersetzung beschäftigen. Dazu habe ich in meinen Übersetzungen bestimmt auch schon an verschiedenen Stellen nicht mit der höchstmöglichen begrifflichen Präzision aufgewartet. Wichtig ist für mich, dass die Informationen und Zusammenhänge weitgehend stimmen. Wenn mal an einer Stelle etwas übertrieben wird oder ein Begriff falsch gewählt, so lege ich das nicht auf die Goldwaage, wenn ich noch immer in der Lage bin, mir mit meiner eigenen Vernunft ein einigermassen wahrheitsgetreues Bild vorzustellen.

In der etwas unpassenden Rubrik Geographie liste ich die vier Artikel deswegen, weil auch meine früheren Artikel etwa zu den geschlossenen Gebieten da erschienen sind.

In diesem ersten Artikel über die Eindrücke aus dem Buch Biohazard [2] soll es erst einmal um ein Paar Hintergründe zur Situation in der Sowjetunion gehen. Wer schon länger meine Artikel liest, der hat gemerkt, dass ich innerhalb von wenigen Jahren von einem ziemlich ausgeprägten Unterstützer Russland zu einem Skeptiker geworden bin. Diese Entwicklung hat sich vor allem deswegen ereignet, weil ich einige Sachbücher über Russland gelesen habe, die den Aufbau des russischen Staates zeigten. Der verklärte Eindruck des russischen Präsidenten Wladimir Putin als eine Art russischem James Bond, der ganz oben Politik machen darf und sich für sein Volk einsetzt, wurde durch einige fundiert dargelegte Inhalte sehr in Bedrängnis gebracht. Von Beginn an, als ich anfing russische Staatsmedien wie RT und Sputniknews zum Zwecke der Wissenserweiterung zu konsumieren, fiel mir auf, wie wenige Informationen dem interessierten Leser über die russische Innenpolitik, Industrie, Entwicklung, Städte und Region gegeben wurde. Russische Einschätzungen zur Aussenpolitik, insbesondere auch Reaktionen auf Aktionen der Westmächte finden sich aber gleichzeitig zuhauf. Diese Diskrepanz ist auffällig. Vielleicht fällt es aber auch vor allem deswegen auf, weil ich als der russischen Sprache nicht mächtiger auf fremdsprachige Artikel angewiesen bin.

Was in den von mir gelesenen Büchern stets erfahren werden konnte war die Tragik, der die auf den russischen Gebieten lebenden Völker immer wieder ausgesetzt wurden. Die Tragik besteht für die einfachen Menschen darin, der politischen Willkür nahezu schutzlos ausgeliefert zu sein. Der Russische Staat, der bis 1861 seine Bauern in Leibeigenschaft hielt und bis 1906 als absolute Monarchie über keine Verfassung verfügte, ist ein kaum verständliches, gegenüber dem Westen seit der Industrialisierung stets rückständiges Gebilde, welches im Wesentlichen aus politischer Verwaltung, Geheimdiensten und Militär besteht. Grosse zivilgesellschaftliche Interessengruppen, Gewerbeverbände und dergleichen gibt es nur wenige. Vor allem aus einem Grund, weil nämlich individuelle Freiheit und garantiertes Privateigentum keine traditionellen Werte sind, die hochgehalten werden. Gerade in der Zeit von der Russischen Oktoberrevolution 1917 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1992 waren die Zeiten besonders schlimm. All das prägt ein Land sehr tiefgreifend und erschwert Veränderungen.

Biowaffenprogramme [6] gab es gemäss Ken Alibek in der Sowjetunion bereits ab den frühen 1920er Jahren, sogar noch vor der Gründung der Sowjetunion [2 - Seite 172]. 1921 soll auf persönliche Anordnungen Lenins und unter der Geheimpolizei WeTscheKa (auch Tscheka genannt, russ. Abkürzung ВЧК) [7] unterstellt das Laboratorium Nr. 12 [8] gegründet worden sein. Gemäss Alibek unterstand das Labor direkt Genrich Grigorjewitsch Jagoda (1891-1938 - russisch Ге́нрих Григо́рьевич Яго́да) [9], damals einer der hohen Funktionäre der Geheimpolizei, der in der Sowjetunion in verschiedenen Funktionen Karriere machte und für seine Grausamkeit bekannt war, bis er 1938 in einer von Stalins Säuberungsaktionen gefangengenommen, verurteilt und exekutiert wurde.

Das Laboratorium Nr. 12 ist in Moskau und existiert bis heute, seit 1992 untersteht es der Kontrolle der Russischen Föderation und seine Aktivitäten sind weiter streng geheim. Gemäss Alibek betrieben die westlichen Mächte erst ab den 1940er Jahren Forschungsprogramme im Bereich biologische Waffen [2 - Seite 231]. Kanada und Grossbritannien waren die ersten westlichen Mächte, die USA folgten ein wenig später mit eigenen Programmen. Damit dürfte die UdSSR zusammen mit dem imperialen Kaiserreich Japan zu der Zeit Pionier auf dem Gebiet der Biowaffen gewesen sein. Ob das dritte Reich dahingehend Forschung betrieb ist mir nicht bekannt. Bekannt ist hingegen, dass 1925 vom Völkerbund [10] eine Genfer Konvention gegen biologische und chemische Waffen verabschiedet wurde [11]. Die UdSSR ratifizierte den Vertrag 1928, war aber nur von 1934 bis 1939 Mitglied des Völkerbundes, zum Austritt kam es durch Ausschluss wegen der sowjetischen Invasion Finnlands.

Im Zweiten Weltkrieg, aus russischer und sowjetischer Perspektive Grosser Vaterländischer Krieg genannt, gab es rund um die mit kriegsentscheidende Schlacht von Stalingrad Gerüchte um den Einsatz einer biologischen Waffe. Es kam nämlich zu einem mysteriösen Ausbruch der Krankheit Tularämie [12]. Diese ist wie Milzbrand eine Krankheit, die durch Bakterien verursacht wird, durch Bakterien der Art Francisella tularensis [13]. 1942, im Jahr der Schlacht von Stalingrad gab es in der UdSSR vor allem in der betreffenden Umgebung mehr als 100'000 gemeldete Fälle von Tularämie, 1941 und 1943 aber nur gerade etwa deren 10'000 [2 - Seite 30]. Eine 1941 in Kirov hergestellte Tularämie-Waffe dürfte also zum Einsatz gekommen sein, wirklich entscheidend kriegswichtig war ihr Einsatz wohl dennoch nicht.

In den 1950er und 1960er Jahren und wohl auch vorher wurde nicht nur unter Ägide der Geheimpolizei weiter an biologischen Waffen gearbeitet, sondern auch unter militärischer Kontrolle. Die Geheimpolizei wurde durch einige Namens- und Organisationsänderungen, über OGPU, NKWD, NKGB und MGB zum KGB [14]. Dem Verteidigungsministerium unterstellt gab es das sogenannte 15. Direktorat, welches bis 1972 die meisten Aktivitäten im Bereich der biologischen Waffen kontrollierte. Ende 1971 wurde die Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen [15] in einer Vollversammlung der Vereinten Nationen unterzeichnet, ein völkerrechtlicher Vertrag, der für alle Unterzeichner bindend war. Ob sich die USA und andere westlichen Mächte daran hielten, ist nicht bekannt. Ken Alibek meint im Buch, dass die Dinge, die er in den USA gesehen hatte, vor allem wirklich defensiven Zwecken dienten. Einen allumfassenden Einblick hat er aber kaum gewinnen können, in anderen Ländern war Alibek nicht und kann deswegen auch nichts über deren Aktivitäten sagen.

Wollte man weiter an biologischen Waffen arbeiten, bewegte man sich fortan in der Illegalität, was den Sowjetapparat aber keineswegs kümmerte, zu verlockend war die Möglichkeit, sich auf diesem Gebiet einen echten Vorsprung zu erarbeiten. Da und dort war man auch auf Material aus dem Westen angewiesen, welches man sich für zivile Zwecke beschaffte und schliesslich in der Forschung für Biowaffen einsetzte. Zu diesem Zwecke gründete man 1973 mit Biopreparat (russ. Биопрепарат) [16] eine offiziell als zivil bezeichnete Organisation, die wesentliche Teile der zuvor im 15. Direktorat des Verteidigungsministeriums angesiedelten Forschungs- und Produktionseinrichtungen übernahm. Völlig losgelöst operierte Biopreparat dennoch nicht, das Militär wie auch Leute des Geheimdienstes KGB arbeiteten mit, hatten volle Einsicht und arbeiteten parallel an ihren eigenen Projekten. Alibek vermutet, dass der KGB selbst Laboratorien und Produktionsanlagen unterhielt, aber genauere Kenntnisse hatte er keine. Er war schliesslich in der Führungsriege von Biopreparat und nicht im Parteisekretariat, der Regierung oder für einen Geheimdienst tätig. Die Anzahl Mitarbeiter bei Biopreparat wird von Alibek mit etwa 30'000 angegeben, total sollen in den frühen 1980er Jahren über 60'000 Menschen im Bereich der Biowaffen tätig gewesen sein [2 - Seite 43].

Alibek listet im Anhang des Buches [2 - Seite 297ff] 12 Standorte auf, an denen unter der Kontrolle des 15. Direktorates an Biowaffen geforscht und Produktion betrieben wurde. Dazu kommen 24 Standorte, die unter der Kontrolle von Biopreparat standen. Das Gesundheitsministerium war an 6 Standorten mit biologischen Waffen beschäftigt und auch die Sowjetische Akademie der Wissenschaften leistete an 5 Standorten Grundlagenforschung.

Ken Alibek, der von einigen wegen seines Überlaufens in den Westen von einigen als Landesverräter an der Sowjetunion und Russlands bezeichnet wurde und in Russland mindestens zeitweise um sein Leben hätte fürchten müssen, schreibt am Ende des Buches [2 - Seite 292], dass er Russland liebte und es immer noch liebt, aber dass er sich für das Land und dessen Einwohner ein anderes Schicksal wünscht. Er meint, dass er selbst Russland nicht stärker betrogen hat, als dieses Land selbst seine Leute betrogen hat, weil es durch den moralisch verkommenen Verwaltungsapparat nicht fähig war, positive Strukturen zu schaffen. Dies ist ein hartes Urteil, das Alibek ausspricht, aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung und einer guten Karriere in diesem Staat kann man ihm kaum widersprechen. Wobei auch im Westen immer wieder Leute ziemlich desillusioniert aus staatlichen Diensten und Tätigkeiten in privaten Unternehmungen ausscheiden.

Da Ken Alibek in häufigen Impfungen, also der spezifischen Immunisierung durchaus Probleme sieht, hat er sich mit möglichen Verbesserungen des nicht spezifischen Immunsystems [17] beschäftigt. Wenn man etwa Soldaten gegen fünf oder mehr gefährliche Seuchen, die als Biowaffen verwendet werden können, immunisieren möchte und es jährlicher Impfungen oder Boostern bedarf, ist das Risiko von Unverträglichkeitsreaktionen einigermassen gross. Ken Alibek schreibt davon [2 - Seite 287], dass sein Körper 1987 auf seine letzte Impfung gegen Milzbrand allergisch reagierte. Diese Reaktion musste akut behandelt werden und danach war eine 10 Tage dauernde Desensibilisierungstherapie nötig. Er erwähnt auch, dass er an weiteren, chronischen Allergien leidet.

Über das erwähnte Laboratorium Nr. 12, welches auch unter anderen Namen bekannt ist, erschienen im Frühjahr 2018 infolge der Giftanschläge in Grossbritannien einige Artikel. Einer davon - beim englischen Guardian erschienen - ist frei zugänglich und deswegen hier verlinkt [18]. Das Laboratorium Nr. 12 soll aktuell dem Russischen Auslandsgeheimdienst SWR (russ. СВР = Служба внешней разведки Российской Федерации) [19] unterstellt sein. Dieser entstand 1991 aus dem früheren ersten Direktorat des KGB [20]. Geändert hat sich also kaum etwas, denn das Institut war stets unter dem Kommando geheimpolizeilicher Organisationen. Haupsächlicher für Operationen im Ausland zuständiger Nachrichtendienst in Russland bleibt nach wie vor der Militärgeheimdienst GRU (russ. ГРУ = Гла́вное разве́дывательное управле́ние) [21], ausgeschrieben und übersetzt bedeutet der Ausdruck Hauptverwaltung für Aufklärung.

Bisherige Posts in der Rubrik «Geographie».
Übersicht über alle Rubriken.

Geographie 022 - Biowaffenprogramm der UdSSR - Organisation - Ken Alibek 1/4