Gerade las ich den ZEIT ONLINE-Artikel "Wie ich meine Heizkosten um zwei Drittel senkte", dessen Autor darüber berichtet, wie er sich bei niedrigen Temperaturen in seinem Haus in gegen die Kälte schütztende dicke Socken und "Schafwoll-Handschuhe" einmummelt, um seine Heizkosten zu senken.
Die 'Forenhelden' im Kommentarbereich überbieten sich gegenseitig mit Behauptungen bezüglich der bei ihnen herrschenden niedrigen Temperaturen - und merke: "Wer die Heizung aufdreht bevor er/sie einen Pulli anzieht ist dekadent". Wer also nicht dazu bereit ist, die Temperatur auf höchstens 14 oder 15 °C herunterzuregeln, sollte sich am besten gar nicht erst zu Wort melden - die ihn ansonsten aller Voraussicht nach erwartende Empörungswelle dürfte verheerend sein.
Ich selbst habe da jedoch überhaupt nichts zu befürchten. Bei uns zu Hause herrschen angenehme maximal 10 °C, und von Dezember bis Anfang März werde ich mich und meine Familie ohnehin in flüssigem Stickstoff kryokonservieren lassen, um - den garstigen Winter in wohligem Kälteschlaf überdauernd - die Heizung ganz ausschalten zu können. :)
Nein, in Ernst, ich gehöre nicht zu den heroischen, abgehärteten deutschen Niedrigtemperatureisbärenhelden, sondern mag es gerne mollig warm. So 20 °C sollten es schon mindestens sein! Darüber hinaus hasse ich es, im eigenen Haus mit schwerer, lästiger Kleidung (dicken Pullovern etc.) behängt herumzulaufen (oder zu schlafen).
Aber warum schreibe ich diesen Artikel überhaupt? Etwa um damit zu prahlen, mir selbst in Zeiten hoher Energiepreise kostenintensives Heizen leisten zu können oder damit, wie egal mir Energiesparen, Umweltschutz und Maßnahmen gegen den Klimawandel seien?
So ist es nicht. Dass ich z. B. den Klimawandel als globales, größer werdendes, vom Menschen mitverursachtes Problem betrachte, beschrieb ich bereits vor Jahren in einem heiß diskutierten Artikel, und Energiesparen halte ich prinzipiell für sinnvoll und angemessen.
Beispielsweise wohnen wir in einem relativ gut isolierten Haus mit Lüftungsanlage (so dass die Fenster nicht geöffnet werden müssen), Wärmepumpe, PV-Anlage sowie Stromspeicher und verzichten überdies auf ein eigenes Auto.
Ich sehe es durchaus positiv, wenn es jemandem wie dem Autor des Artikels (also nichts gegen seine Bemühungen und Erfolge!) gelingt, weniger zu heizen und sich dennoch wohlzufühlen.
Der Individualität des Menschen sollte Rechnung getragen werden.
Mir missfällt es jedoch, wenn plötzlich auftretende, scheinbare gesellschaftliche Einigkeit zu Vorgaben führt, nach denen sich augenblicklich alle zu richten hätten bzw. deren Gültigkeit allumfassend anzuerkennen sei, wie z. B. "Mit dem Flugzeug zu verreisen ist dekadent!" oder "Wer es sich in Zeiten hoher Energiekosten erlaubt, im Winter auf Temperaturen von mehr als 18 °C zu heizen, sollte sich schämen!"
Nicht fehlen soll hier auch der 'Klassiker', wenn es um den Vorrang von Kontrolle und Überwachung zwecks Eindämmung von Internetkriminalität kontra die Wahrung des Rechts auf Privatsphäre geht: "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten!" ("Also her mit deinen Daten, oder bist du etwa kriminell?").
("Und der Bitcoin muss natürlich auch schnellstens verboten werden - er verbraucht ja Strom!" - Aber wem sag' ich das?)
Das hat für mich etwas von einer individuelle Bedürfnisse und Vorlieben missachtenden autoritären Gleichmacherei oder gar Religion.
Warum sollte ich als wärmeliebender Mensch, der dazu bereit ist, entsprechend viel dafür zu bezahlen (und damit zugleich dem Auftreten von Schimmel vorzubeugen - danke für die Erwähnung dieses wichtigen Aspekts @stayoutoftherz), mein eigenes Haus nicht mehr ohne schlechtes Gewissen auf eine mir angenehme Temperatur aufheizen dürfen?
Im Kommentarbereich zu oben erwähntem Artikel ist es übrigens bezeichnend, wie jeweils stets diejenigen vorgeblich umweltschädlichen Verhaltensweisen angeprangert werden, die der jeweilige Kommentator selbst vermeidet. So schreibt z. B. der (immerhin Temperaturen von 17 - 18 °C tolerierende) Forist Mirgas:
"Unter Dekadenz fallen mir andere Sachen ein, z.B Urlaubsreisen , Fleischkonsum oder sonstiges."
Vermutlich ist er Vegetarier und hat kein Geld für Urlaubsreisen, folglich stellen für ihn Fleischkonsum und Reisen völlig inakzeptable Verhaltensweisen dar. Ich könnte ihn jetzt natürlich fragen, ob er denn ein Auto besitzt (eine für mich als Nichtautofahrer selbstredend keinesfalls hinnehmbare Umweltsünde!). :-)
Und so zeigt jeder selbstgerecht auf das vermeintliche Fehlverhalten des jeweils anderen ...
Beispiel 1 für die einseitige Betrachtungsweise komplexer Themen: Fernreisen
Die (zu) starke Betonung einzelner Aspekte, denen alles andere bedingungslos unterzuordnen offenbar geboten erscheint, führt m. E. zu oft zu einseitigen Betrachtungsweisen komplexer Themen.
Sicherlich kann man beispielsweise Fernreisen per Flugzeug als klimaschädlich kritisieren. Allerdings plädiere ich dennoch nicht für eine vollkommen immobile Menschheit. Es ist eine große Errungenschaft unserer Zeit, bereichernd und lehrreich, dass wir Menschen in anderen, auch weit entfernten Ländern begegnen und viele verschiedene Orte dieser faszinierenden Welt kennen lernen können. Prinzipiell pflichte ich dem Ausspruch "Reisen bildet." bei.
Meiner Meinung nach helfen Reisen und gegenseitiges Kennenlernen dabei, Vorurteile und ungerechtfertigte Klischees abzubauen. Von welch überragender Wichtigkeit das ist, sollte sofort klar werden, wenn man bedenkt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, auf einer zufällig aufgeschlagenen Seite eines Geschichtsbuchs irgendetwas über Krieg, Konflikte, Terror oder Unterdrückung zu lesen ...
Abgesehen davon leben die Eltern meiner Frau in Indonesien - ein nicht nur mich betreffender persönlicher Grund zu fliegen (die Möglichkeit zu reisen hatte letztlich also auch mein Single-Dasein beendet).
Und als Nichteisbär tut es mir überdies sehr gut, immer mal wieder dem kalten Deutschland samt seinen mich "dekadent" schimpfenden, früh aufstehenden und hart arbeitenden, heroischen Eisbärenhelden zu entfliehen. :)
Übrigens betrug der Spritverbrauch pro Passagier pro 100 km im Jahr 2014 bei Langstreckenflügen zwischen 2,9 bis 3,5 Litern. Das ist m. E. zwar keineswegs optimal, liegt aber möglicherweise unter dem von vielen geschätzten Wert (überdies dürften langfristig gesehen Flugzeuge immer umweltfreundlicher werden). Damit schneidet das Langstreckenflugzeug besser als das Auto, aber deutlich schlechter als die Bahn ab.
Unter anderem deshalb halte ich Inlandsflüge für in der Regel unnötig, sofern eine gute Zugverbindung zur Verfügung steht, und bin noch nie innerhalb Deutschlands geflogen. Ich halte es für vernünftig, möglichst immer dann, wenn mehrere Optionen vorhanden sind, das umweltfreundlichste Transportmittel auszuwählen, kürzere Strecken einfach mal zu laufen oder sie per Fahrrad zu überbrücken und für längere Distanzen den Zug zu nutzen.
Ich hoffe außerdem, dass bald immer mehr Menschen von zu Hause aus arbeiten können und möglichst viele Konferenzen online stattfinden werden, was der Vermeidung von Staus diente, Energie sparte sowie umweltfreundlich und bequem wäre.
Natürlich sollte auch mit Nachdruck daran gearbeitet werden, die Emissionen (Abgase, Lärm) der diversen Verkehrsmittel immer weiter zu reduzieren.
Das ändert aber alles nichts daran, die Möglichkeit, auch in ferne Länder (zukünftig vielleicht irgendwann sogar einmal ins weite All) zu reisen als fantastische Errungenschaft der Menschheit zu betrachten, auf die ich niemals freiwillig verzichtete.
Beispiel 2 für die einseitige Betrachtungsweise komplexer Themen: Geldwäsche & Terrofinanzierung
Insbesondere in der Politik ist es anscheinend weit verbreitet, mittels der Erwähnung bestimmter "Totschlagthemen" jeglichen Widerstand im Keim ersticken zu wollen.
Geht es beispielsweise darum, die Finanztransaktionen jedes Bürgers (insbesondere, wenn Kryptowährungen im Spiel sind) lückenlos zu überwachen und ihn gar dazu zu verpflichten, den Nachweis der Herkunft seines in der Regel völlig legitim erworbenen eigenen Geldes zu erbringen (Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung, wonach "Vermögen unklarer Herkunft unabhängig vom Nachweis einer konkreten rechtswidrigen Tat" selbstständig eingezogen werden kann), wird nahezu reflexartig auf jeden Einwand und jede Mahnung, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren und Privatsphäre sowie Freiheit des Individuums zu respektieren, auf die "Notwendigkeit" der Bekämpfung von "Geldwäsche und Terrorfinanzierung" verwiesen, so als sei dieses Ziel allen anderen automatisch stets übergeordnet.
Energiesparen, die Verlangsamung des Klimawandels (sowie eine angemessene Reaktion auf die mit ihm einhergehenden Konsequenzen), die Bekämpfung von Kriminalität und vieles mehr sind wichtige Ziele, die m. E. jedoch weder quasi gottgegeben über allen anderen Aspekten komplexer Problemstellungen thronen noch dem Menschen jegliche Individualität und Entscheidungsfreiheit hinsichtlich seiner persönlichen Lebensgestaltung rauben sollten.