Dass viele Zeitgenossen die Fragestellung, wann "wie" oder "als", "das" oder "dass" zu verwenden, oder wie der Imperativ von beispielsweise "lesen" oder "geben" zu bilden sei, vor ernsthafte Probleme stellt, ist nichts wirklich Neues (wer möchte, möge sich diesem kleinen Deutschtest unterziehen).
In letzter Zeit fiel mir überdies jedoch immer wieder auf, wie viele Menschen offenbar nicht dazu in der Lage sind, zwischen den Zeilen zu lesen, also Stilmittel wie z. B. Ironie ("Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht. Ich habe es schon hundertmal geschafft." – Mark Twain), Sarkasmus ("Wenn alle Stricke reißen, häng’ ich mich auf." - Johann Nepomuk Nestroy), Satire ("Satire ist Humor, der die Geduld verloren hat." - Kurt Tucholsky) oder Zynismus ("Zynismus ist die Kunst, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten." - Oscar Wilde) korrekt zu interpretieren.
Es gibt keinen Strom!?
Als erschreckendes Beispiel mögen mir die zahlreichen (die absolute Mehrheit darstellenden!) Kommentare auf X dienen, deren Verfasser tatsächlich glauben, das Bild unten stamme von einem fest von der Nichtexistenz elektrischen Stroms überzeugten Verschwörungstheoretiker, statt von jemandem, der auf m. E. ziemlich lustige Art und Weise eben jene Verschwörungstheoretiker persifliert:
Quelle: X
Bei einigen der Statements auf dem Bild ("Niemand hat je Strom gesehen!") könnte man dem Autor auf den ersten Blick mit viel gutem Willen ja noch abnehmen, er meine das tatsächlich ernst, aber spätestens, wenn man dann Dinge wie ...
- "[Batterie] Speichert angeblich Elektonen, hat aber gar keine Öffnung zum be- und entladen" (die Rechtschreibfehler wurden von mir übernommen),
- "Buntes Gekritzel" oder
- "ECHTE MENSCHEN glauben ernsthaft, dass man mit BUCHSTABEN RECHNEN KANN"
... liest, müsste der Groschen fallen.
Das schreiben die 'Ironie-Experten' auf X:
Tut er aber nicht. Stattdessen lese ich Kommentare wie z. B. den von "JnR @JuThrone" ...
Ach du heilige, man denkt immer wieder so bescheuert kann doch keiner sein und dann ist man verblüfft, dass immer noch eine Schippe drauf kommt, jetzt ist Strom sogar von denen „da oben“ und einfach nur Zauberei😂😂😂
..., und "Der-sich-am-Kopp-kratzt🤔📯🎗💙🪣 @Ludwig64747662" merkt selbstgefällig an:
Wir, die Gebildeten, halten euch, die Schwurbler und Leugner, nur für dumm, weil ihr es auch seid. Jeden Tag, jede Stunde, stellt ihr das unter Beweis! Beklagt euch also nicht über einen Umstand, den ihr selbst herbeiführt.
Gebildet? Möglich. In der Lage, Ernstgemeintes von Persiflage zu unterscheiden? Ganz offenkundig nicht!
Dass es sich bei der scheinbaren Empörung darüber, "DIE DA OBEN" wollten uns weismachen, es gäbe Elektrizität - was natürlich Unsinn sei -, um pure Satire handelt, bemerkt erstaunlicherweise(?) nur eine Minderheit der Kommentierenden!
Ich behaupte übrigens nicht, alles, was von irgendjemandem als "Verschwörungstheorie" bezeichnet wird, sei zwangsläufig frei erfundener Nonsens. Das muss jeweils im Einzelfall bewertet und entschieden werden, und darum geht es mir an dieser Stelle nicht, aber unabhängig davon ist es mir schlicht unbegreiflich, wie auch nur eine einzige Person ernsthaft glauben kann, der Autor oben gezeigten 'Kunstwerks' betreibe hier keine Persiflage von Verschwörungstheoretikern, sondern sei fest davon überzeugt, es gebe tatsächlich keinen elektrischen Strom.
Nein, ich werde Ironie auch zukünftig nicht kennzeichnen.
Dafür, dass es sich bei der von mir rein subjektiv empfundenen Häufung mangelnder Perzeptionsfähigkeit von Ironie um ein reales Phänomen handelt, spricht die Tatsache, unter ironisch gemeinten (und von vielen missverstandenen) Kommentaren immer öfter die Forderung zu lesen, Ironie, Sarkasmus etc. doch bitte zu kennzeichnen.
Darauf kann ich nur mit einem ganz klaren "Nein!" antworten. Das kommt überhaupt nicht in Frage! Als nächstes käme dann vermutlich noch der Wunsch, die Abwärtsspirale mangelnden Textverständnisses durch Weglassen von Fremdwörtern oder die Verwendung "Einfacher Sprache" in Gang zu halten ... An dieser Stelle bin ich einfach mal 'arrogant' genug, zu konstatieren, dass nicht ich mein Niveau nach unten anpassen werde (z. B. Ironie erkläre oder die Nutzung des Genitivs vermeide), sondern sich eben nur denjenigen der wahre Hochgenuss des Lesens meiner Texte offenbart, welche die in ihnen zur Anwendung kommenden Stilmittel, enthaltenen Metaphern und Nuancen zu erfassen und goutieren vermögen. ;-)
Was sagt die Wissenschaft zum Thema?
Laut Nicola Spotorno, Sprachforscher und Philosoph am CNRS in Lyon, et al. reichen die kombinierte Kenntnis der Bedeutung der Wörter und die Beherrschung der grammatikalischen Regeln einer Sprache allein nicht aus, stets die beabsichtigte Bedeutung der Äußerung eines Sprechers zu erfassen. Die Divergenz zwischen Gesagtem und tatsächlich Gemeintem ließe sich nur mit dem nötigen Einfühlungsvermögen (Empathie) in den jeweiligen Gesprächspartner überwinden (Spotorno spricht davon, die mentalen Zustände anderer mittels "Theory of Mind", kurz ToM, zu interpretieren).
Dabei spielten während des gesamten Vorgangs der Verarbeitung von Ironie ablaufende Vereinigungsprozesse zwischen dem linguistischen Code (Grammatikregeln etc.) und kontextuellen Informationen (zwecks Erkennens der Absichten des Kommunikationspartners) eine entscheidende Rolle, wofür die Interaktion verschiedener, ein neuronales ToM-Netzwerk bildender Hirnareale vonnöten sei.
Obige Informationen stammen aus den Studien