Peter Sloterdijk gilt als einer der wichtigsten Philosophen und Denker unserer Zeit. Daher sollte man grundsätzlich ernst nehmen, was er sagt.
Er ist eine wohltuende Ausnahme von linken Einheitsbrei in der veröffentlichten Meinung, vermutlich eine zu große geistige Autorität, als dass man ihm etwas anhaben könnte (sozusagen "to big to fail"). Zum Beispiel hat er Merkels Flüchtlingspolitik schon 2016 scharf kritisiert und von Souveränitätsverzicht gesprochen, und dass sich Deutschland einer Überrollung preisgebe (1). Allerdings hoffte der unverbesserliche Optimist auch, dass früher oder später eine Kehrtwende einsetzen würde, denn "es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung". Nun, die ist 6 Jahre später immer noch nicht eingetreten - in Gegenteil! Da hat er offenbar die Hartnäckigkeit der Eliten unterschätzt, die hinter Merkel, Macron und Co. stehen.
Der Nationalstaat ist laut Sloterdijk das einzige politische Großgebilde, das bis zur Stunde halbwegs funktioniert. „Als lockerer Bund hat die EU mehr Zukunft, als wenn sie auf Verdichtung setzt."
Apropos Europa, zu Europa meinte er: "Wie das alte Europa verschwindet. Es gleicht vorerst noch einem schrumpfenden Apfel auf einer Silberschale..." (2).
Und vom bedingungslosen Grundeinkommen, einem der Lieblingsprojekte der Linksgrünen, hält er gar nichts. "Die Grundeinkommens-Postulanten sind die Anarchisten unserer Zeit, indem sie das Bestehende durch die Gewöhnung der Öffentlichkeit an Überforderungen unterwandern" (2). Auch regte er einmal an zu einer „Unternehmerbewegung“, analog zur Arbeiterbewegung (4). Ja, Sloterdijk ist definitiv antilinks und neoliberal.
Logisch, dass er an den Medien kein gutes Haar lässt. So sagte er wörtlich „Der Lügenäther ist so dicht wie seit den Tagen des Kalten Kriegs nicht mehr. Im Journalismus trete die Verwahrlosung und die zügellose Parteinahme allzu deutlich hervor.“ (1)
Die Presse kritisiert er auch im Zusammenhang mit deren monothematischer Kommentierung von Terrorakten. Ihre "Fehlfunktion" besteht laut Sloterdijk darin, dass sie "jedem zukünftigen Täter die Garantie gewährt, je größer die Abscheulichkeit, die er begeht, mit desto höherer Aufmerksamkeit sie ausgezeichnet werde." (2)
In einem kürzlichen Interview in der "Presse" sorgen aber ein paar Aussagen für Stirnrunzeln (zumindest bei mir). So meinte er als Beipiel für coronaverursachte kollektive Regressionen und Infantilisierung der Gesellschaft "in der Bevölkerung haben wir doch nennenswerte Zahlen an Corona-Leugnern auftreten sehen, die bis zuletzt an seltsamen Verschwörungstheorien festgehalten haben." In die Medizin scheint sich der als extrem belesen geltende Sloterdijk jedenfalls noch nicht eingelesen zu haben. Er meinte auch, das Ersticken der Wirtschaft während der Lockdownmaßnahmen hätte zu einem aus seiner Sicht gesunden Abbau des "Überbaus an Willküraktivitäten" geführt, denn das Konsumverhalten davor, der Leichtsinnsstandard (offenbar eine Verballhornung von Lebensstandard) sei historisch singulär gewesen und "entartet", ein konsumistisches Frivolitätsklima hätte vorgeherrscht (5).
Hier liefert er leider nur Wasser für die Mühlen der Klimafanatiker. Zum Glück lesen die nicht Sloterdijk😄.
Andere Zitate:
"Der moderne Steuerzahler geht aus dem antiken Sklaven hervor... Noch heute jagt der Staat die Nachfahren der Sklaven, (...) die Steuerflüchter." Einbrecher sind laut Sloterdijk dagegen "die letzten Zeugen einer archaischen Ökonomie, (...) kriminell gewordene Jäger und Sammler, die sich der feudalen Versklavung und der Domestikation durch den Arbeitsvertrag entzogen haben."
"Der war on terror besitzt die ideale Eigenschaft, nicht gewonnen werden zu können - und daher nie beendet werden zu müssen.“
"Die meisten Parteipolitiker interessieren sich sehr wenig für die Gedanken und Gefühle der Leute, deren Geld sie ausgeben."
"Der Beseelung der Maschine entspricht strikt proportional die Entseelung des Menschen.“
"Die religiöse Überlieferung lebt davon, dass die Kühlkette der Illusionen nie unterbrochen wird."
Mehr Zitate z.B. hier
Sloterdijk ist auf jeder Fall ein Sprachkünstler und Formulierungsvirtuose (er hatte 1976 ja bezeichnenderweise im Fachbereich Sprachwissenschaften der Universität Hamburg promoviert, nicht in Philosophie (3)). Dabei ist seine Methode die fächerübergreifende Synthese, nicht die punktgenaue Analyse, denn er agiert stark diszplinüberschreitend und webt auch Soziologie, Politologie, Ökonomie, Kulturgeschichte und Anthropologie in seine Werke ein (4). Obwohl seinem Kritiker Manfred Frank zufolge Sloterdijk die „Feinmechanik der expliziten philosophischen Argumentation“ nicht beherrscht, finde ich gerade seine interdisziplinäre Scheuklappenlosigkeit gut - wir haben in unserer Gesellschaft viel zu viele "Fachtrottel", die den Blick aufs Ganze längst verloren haben.
Seine zahlreichen Interviews sieht er übrigens auch als Essays - seine Interviewer sind bloße Stichwortgeber und keine echten Gesprächspartner.
Inwiefern er seine ungeheure Sprachkreativität bei der Neuschaffung von vormals nicht existierenden Wörtern nutzt, um seine Leser eher zu vernebeln als aufzuklären, das ist die eigentliche Frage, die sich mir stellt beim Lesen seiner Essays.
Beispiele gefällig?
Celebretariat im Sinne von Celebrities als Prekariat, also Leute, die berühmt sind, weil sie berühmt sind, aber außerhalb ihrer Berühmtheit nichts haben.
Banalitätsgarant, als solchen benannte er den Ex-BP Deutschlands, Christian Wulff.
Ritualfitness erlangen die resolut Übenden im Glaubensstudio, sie nennen es allerdings Frömmigkeit. Und Heuchelei ist Fitness-Vortäuschung bei Untrainierten, eine Form der Heuchelei ist die "politische Korrektheit".
Herabkömmling, als solchen bezeichnete er Otto von Habsburg, der in einer anderen Welt Europas Kaiser hätte werden können, dem aber das Schicksal in seiner Bosheit beschert hatte, als Abgeordneter in Straßburg auf "Europas Auswahl an entsendungsfähiger Unbegabung " zu treffen.
Was hält Ihr von Sloterdijk?
Quellen:
(1) https://www.cicero.de/innenpolitik/peter-sloterdijk-ueber-merkel-und-die-fluechtlingskrise-es-gibt-keine-moralische
(2) Peter Sloterdijk: "Neue Zeilen und Tage - Notizen 2011-2013", Suhrkamp 2018
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Sloterdijk
(4) https://literaturkritik.de/id/19028
(5) https://www.diepresse.com/6009489/peter-sloterdijk-wir-halten-leichtsinn-fur-normalitat