Lieber Leser,
nach langer Zeit wieder einmal ein Reisebericht, ich bin letzter Zeit nicht sehr viel herumgekommen (neuer Job, etc.).
Neulich waren wir in Waidhofen an der Ybbs, einer Stadt mit ca. 11000 Einwohnern im westlichen Niederösterreich, fast schon in Oberösterreich. Früher war sie Zentrum der Eisenverarbeitung und so sind ihre Einwohner zu Wohlstand gekommen (der Eisenerzabbau im nahegelegenen Erzberg hatte schon im 11.Jhd. begonnen). Diesem Umstand und der Tatsache, dass sie wie durch ein Wunder verschont wurde von sämtlichen Kriegen, verdankt sie, dass die Altstadt noch wunderschön erhalten wurde, mit vielen spätmittelalterlichen Häusern.
Hauptattraktion der Stadt ist aber das "Rothschildschloss", benannt nach Albert Salomon Anselm Freiherr von Rothschild (1844–1911), damals der reichste Mann Europas, der das aus dem 13.Jhd. stammende, aber komplett verfallene Schloß 1875 übernommen und renoviert hatte.
Markant ist der 33m hohe, aus dem 14.Jhd. stammende Bergfried. Die moderne Glaskonstruktion wurde 2006 aufgesetzt.
Über enge Treppen kann man den Turm hinaufsteigen.
Oben angekommen, bietet sich ein schöner Rundumblick über die Stadt!
Im Vordergrund dominiert die spätgotische Stadtpfarrkirche. Links ist die Ybbs zu sehen (ein Nebenarm der Donau). Das Wetter war leider nicht ideal.
Aber zumindest gab es ein paar nette Eiszapfenformationen zu bewundern.
Nur ab uns zu konnte man ein paar Sonnenstrahlen sehen, die sich durch die dichte Wolkendecke durchsetzen konnten.
Der Blick von einer Ybbsbrücke auf die wuchtige Schlossanlage und seinen modernen Ergänzungen (mit der Stadtpfarrkirche links).
Im Inneren des Schlosses ist heute ein Museum untergebracht, das sich über die 5 Elemente der Geschichte Waidhoferns nähert. Durch die Eisenverarbeitung wurden auch Handwerke wie die Schlosserei in dieser Stadt ausgeübt, hier eine Sammlung alter Schlösser.
Es gab auch mehrere Sensenschmieden in Waidhofen, die letzte von ihnen schloss 1954 ihre Pforten für immer.
3 Beispiele für "Eingrichtflaschen" oder Geduldflaschen - es kostet sicher viel Geduld, die Objekte durch den Flaschenhals zu montieren.
Oben ist eine Heiliggeistkugel zu sehen, ein Ausdruck der Volksfrömmigkeit bis zum Ende des 19. Jhds. und damals in der Gegend und bis nach Bayern weit verbreitet. Sie galt als Schutz vor dem Teufel und bösen Geistern.
Weit interessanter ist, dass diese Kugeln im Volksmund auch "Suppenbrunzer" (oder Suppenpisser) genannt wurden - für mich eine der skurrilsten Wortschöpfungen überhaupt.
Der Name kommt daher, weil die Heiliggeistkugel oft mitten über dem Esstisch hing. Zur Essenszeit stand genau dort ein großer Topf mit dampfender Suppe auf dem Tisch. Durch den aufsteigenden Dampf der Suppe beschlug das Glas der Kugel, kondensierte und tropfte langsam wieder zurück in den Topf. So fing man auch noch Suppenwasser auf, das sonst verlorengegangen wäre (ich bin aber nicht sicher, ob das ein beabsichtigter Zweck war oder nur nützlicher Nebeneffekt).
Während des 2.Weltkriegs gab es extremen Mangel an Männern, daher wurden eigene "Damenfeuerwehren" aufgebaut.
Es gibt auch einen Bereich mit einer historischen Spielzeugsammlung inkl. einer umfangreichen Kollektion von Puppen und Puppenhäusern. Hier eine typische Puppenkücheszenerie, durch die man gut sehen kann, wie die Küchen früher ausgesehen haben.
"Eigner Herd ist Goldes Wert" - wie wahr! Umgelegt auf heute: Eine autarke Energieversorgung ist Gold wert!
Der 50m hohe Stadtturm gilt auch als Wahrzeichen von Waidhofen.
Auf der Rückseite ist dieser Spruch zu lesen, der erst im Jahr 1932 angebracht worden war.
Der Schriftzug (anlässlich der 400-Jahr-Feier der Osmanenvertreibung) gilt heute als verpönt, vermutlich wäre er in Deutschland schon längt abgerissen worden.
Stattdessen ist nach dem 2. Weltkrieg eine Tafel mit folgendem "erklärenden" Text angebracht worden, in dem Nationalgefühl mit Faschismus in (meines Erachtens nach unzulässige) direkte kausale Verbindung gebracht wird:
"1932 in einer politisch radikalisierten und wirtschaftlich desolaten Krisenzeit wurde das 400- Jahr-Jubiläum der Osmanenvertreibung als großes Heimatfest inszeniert. Das vermeintliche Heldenepos um die tapferen Bürger wurde mit der Aufschrift auf dem Turm ergänzt, um das damals angeschlagene Österreichbewusstsein der Bevölkerung zu stärken.
Die neu entstandene nationale Begeisterung endete schließlich im Austrofaschismus und in einer Diktatur mit Krieg. Heute soll die Aufschrift Aufforderung zur Diskussion über die Bewertung von historischen Ereignissen und fehlgeleitetes Nationalgefühl sein."
Skurril ist übrigens auch, dass Adolf Hitler bis 2012 noch Ehrenbürger von Waidhofen war (Quelle), da die Stadtpolitiker bis dahin (vermutlich zu unrecht) die Ansicht vertreten hatten, dass mit dem Tod einer Person eine Ehrenbürgerschaft automatisch erlischt! Nach Protesten reagierte man 2012 und hob die Ehrenbürgerschaft explizit auf, als eine der letzten Städte weltweit.
Von den mittelalterlichen Stadttoren ist nur noch dieses erhalten. Auf dem Torturm findet sich eine Aufschrift mit dem Wahlspruch der Stadt: "Ferrum chalybsque urbis nutrimenta" („Eisen und Stahl ernähren die Stadt“). Die Fassade stammt aber aus dem 19.Jhd.
Die Altstadt ist zwar sehenswert, aber schwer zu fotografieren aufgrund der zahlreichen geparkten Autos, die den Eindruck des historischen Ensembles leider sehr stören.
Ein Blick in das Innere des sog. Gerharthofs. Von aussen unscheinbar, versteckt sich hier ein gotischer Arkadeninnenhof mit Rauten- und Fischblasenornamentik. Das erste Geschoß ruht mit Tonnengewölbe auf gedrehten Pfeilern (Quelle).
Vom Stadtrundgang ermüdet (und unterkühlt), kann man sich z.B. im traditionsreichen Stadtcafé Hartner stärken, wird aber dabei vor eine schwierige Wahl unterschiedlicher hervorragender Kalorienträger gestellt!
Ein Teil des Gastraums befindet sich ebenfalls in einem ehemaligen, jetzt überdachten Arkadeninnenhof!
Einmal mehr zeigt sich: Auch "in der Provinz" gibt es viel zu entdecken, wenn man nur genau hinschaut!
All pics by @stayoutoftherz
!pinmapple 47.96303 lat 14.77367 long Waidhofen an der Ybbs d3scr
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