Nach der Fliegenklatsche hat in der Regel der Bestatter seinen Einsatz

Elke Bleicher, treu ihrer selbst auferlegten Regeln des täglichen Rituals folgend, bettet am geöffneten Fenster der Wohnküche in der kleinen, aber kuschligen Wohnung (zwischen “Seiters-Weg” und der “Karl-Marx-Straße”), ihren körperlich beachtlichen Vorbau auf das Fensterbrett. Ist das Gewicht erst einmal gleichmäßig und stabil verteilt, gilt ihre Aufmerksamkeit, begleitet von Sorge und Wehmut, dem Zustand des Asphalts vor der Tür. Zwecks dieser Begutachtung schwenkt Frau Bleicher zuweilen den Kopf von links nach rechts. Manchmal auch umgekehrt. Einhergehend mit der Dehnung der Nackenmuskulatur stellt sie sich immer wieder die bereits in die Jahre gekommene Frage: »Wie ist es überhaupt möglich, dass sich dieser Asphalt in einem dermaßen jämmerlichen Zustand präsentiert? Weder schreitet, schlendert, spaziert hier jemand vorbei noch getraut sich gar ein männliches Wesen auf meine Couch.«
Sieht man mal geflissentlich von ihrem direkten Nachbarn ab.
Und der heißt Alfons Sandbeck. Ein überaus ansehnlicher, rüstiger Rentner, der ohne großes Wehklagen vor nun schon fast genau zehn Jahren das Regiment über den Gasherd, den Vorwerk-Staubsauger und die TV-Fernbedienung in seinem Zuhause übernommen hat. Allesamt lebenswichtige Objekte, die sich unter alleiniger Kontrolle seiner Frau befanden, bevor die sich mit Haut, Haaren und Kittelschürze dem “Leben danach” zuwandte.
An jenem Tag rief Edith Sandbeck (wohl unbeabsichtigt – aber dennoch unbestritten) dem einzigen Bestatter im Ort wieder in Erinnerung, dass in dessen Job kein Ruhetag vorgesehen scheint. Trotz Sonn- und Feiertagszuschlag bleibt daher zu bezweifeln, dass jene Sonntagsschicht den Spezialisten für die waagerechte Lagerung in Hochstimmung versetzte.
Ediths bereits malades Herz, welches ohnehin positive Wallungen nur noch vom Hörensagen kannte, wollte nicht weiter die schlechte Behandlung, ausgelöst durch die Anwesenheit ihres Angetrauten, überhaupt ertragen. Zumal Alfons, nach Meinung seiner Frau, ohnehin schon viel zu lange im Altersruhestand weilte.
Es war genau um 19:50 Uhr. Zehn Minuten vor der 20:00 Uhr Tagesschau. Der Augenblick, als das lebenswichtige Organ von jetzt auf sofort jede weitere Mitarbeit am täglichen Geschehen verweigerte.
Alfons bemerkte zwar, dass der sonore Schnarchton seiner Angetrauten sich eine ungewöhnlich lange Auszeit gönnte. Doch sehnte er sich in jenem Augenblick nicht nach den großen, nicht einmal bestellten Sorgen, die für die tiefen Falten auf der Stirn verantwortlich scheinen. Also, die Dinger, die man sich halt so macht, wenn gar Ungewöhnliches geschieht.
Alfons legte stattdessen ganz entspannt die Plastik-Fliegenklatsche auf den gekachelten Wohnzimmertisch neben seine Flasche Bier. Jenen erfrischenden Elektrolyt-Spender, ohne den die Sportschau undenkbar scheint.
Gleichzeitig baute er die nötige Konzentration auf, um all das wenigstens teilweise geistig verarbeiten zu können, was die im Anschluss folgende Nachrichtensendung servieren wird. Die er übrigens (und das war dann doch schon sehr ungewöhnlich) an diesem Sonntagabend ganz ohne Nebengeräusche aufsaugen konnte.

In diesem Zusammenhang sei vielleicht noch erwähnt, dass die Ganzkörper-Guillotine für nervende Flugobjekte sich Alfons zugelegt hatte, um mit einem gezielten Schlag auf die Oberschenkel seiner Frau deren Schnarchen zumindest zeitweise zu unterbrechen. Diese Aktion ist nicht zu verwechseln mit dem kurzen, aber fester Trommelwirbel auf den nicht zu übersehenden Bauch seiner Frau. Mit der nämlich, signalisierte er seiner Edith für gewöhnlich, dass in jedem Augenblick das Tief über Helgoland seinen unaufhaltsamen Weg in Richtung Paderborn fortsetzen wird. Denn nach der Wettervorhersage übernahm die Dame des Hauses traditionell die Programmdirektion und damit selbstverständlich auch die Fernbedienung.
Doch an diesem Abend, der Vorspann zum „Tatort“ lief bereits, hätte Alfons die Fliegenklatsche auch an den Fußsohlen seiner Gattin zertrümmern können. Jeder Versuch, dem leblosen Koloss auf der Couch wenigstens ein Augenzwinkern zu entlocken, war zum Scheitern verurteilt.
So, oder ähnlich, drückte es zumindest der herbeigeeilte Notarzt gegenüber Alfons aus, der sichtlich unbeeindruckt von der Arbeit seines Kollegen im Tatort schien, welcher sich gerade an einer Wasserleiche zu schaffen machte. Seine Bemühungen fasste er mit einem Satz zusammen:
»Mein lieber Herr Gesangsverein, hier kann sogar ich nichts mehr machen.«
Überreichte nach dieser Erklärung dem etwas ungläubig dreinschauenden Witwer den Totenschein und machte sich mit einem: »Dann hätten wir die Formalitäten auch erledigt«, wieder vom Acker.
Günther Kirchweih, Chef des Bestattungsunternehmens »Kirchweih & Sohn« war an diesem Sonntagabend ausnahmsweise sogar selbst in tragender Funktion unterwegs. Nach dem Eintreffen in der gemütlichen Stube des Anwesens Sandbeck, warf er zuallererst einen prüfenden Blick auf den leblosen Fleischberg in den Tiefen der Couch. Erst dann folgte ein ratloser Blick zu Alfons Sandbeck.
Doch den Hausherrn interessierten keine Blicke – mit welcher Botschaft im Gepäck sie auch immer unterwegs sein sollten. Demzufolge hatte er beide Hände vorsichtshalber in seinen Hosentaschen vergraben. Frei nach dem Motto, nur keine schweißtreibende Arbeit nach achtzehn Uhr.
Herr Kirchweih ließ trotzdem nicht locker und unterlegte seinen Blick mit Worten. »Alfons, ich will ja nicht wirklich unhöflich sein. Aber deine Frau hat sich selbst mehr als gut gefüttert.«
Der Fachmann auf dem Gebiet der Sarg-Technik stellte diesen Satz einfach mal so in den Raum. Er erwartete auch keine Proteste oder Einwände, da die Bestätigung seiner These unübersehbar in einer gelbgrünen Kittelschürze vor ihm lag. Einmal in Schwung geraten, kam Kirchweih regelrecht in Plauderlaune.
»Könntest du mir so ganz nebenbei vielleicht einmal verraten, wie wir Edith nachher die Treppe herunterbekommen sollen? Addiere schnell das ungefähre Gewicht deiner Frau und das eines leeren Transportsarges. Wie schwer die Kiste ist, kann ich dir bis auf die dritte Stelle hinter dem Komma verraten. Ich setze jedenfalls nicht mein eigenes Leben aufs Spiel, nur um gute drei Zentner tote Masse unbeschadet über eine viel zu enge und ausgelatschte Treppenstiege zu transportieren.«
Trotz fest einzuplanender Einnahmen, schien Günter Kirchweih Probleme mit der Galle bekommen zu haben. Anders konnte sich Herr Sandbeck die aufkeimende schlechte Laune des Kleinunternehmers nicht erklären. Und der hatte noch längst nicht fertig:
»Wie kann man auch nur so unpraktisch bauen? Jeder, der mir heute sagt, er plane neu zu bauen, dem gebe ich gleich einen Ratschlag mit auf den Weg. Und der zielt darauf ab, nur ja daran zu denken, dass früher oder später ein sperriger Gegenstand aus dem ersten Stock nach unten in ein schwarzes Auto mit Milchglasscheiben getragen werden muss. Bei dir kommt der Rat zu spät. Denn jetzt haben wir nämlich den Salat.«
Während Kirchweihs Sohn schon mal den Deckel der stabilen Kiste öffnete, wandte sich der Bestatter mit fachlichem Weitblick an seinen neuesten Kunden: »Alfons, wir können die Sache drehen und wenden, wie wir wollen. Es bleibt keine andere Möglichkeit, als dass ich nach Hause fahre und das andere Auto mit dem kleinen Hebekran bringe. Wir hieven deine Frau durch das Fenster raus.«
Der frisch gebackene Witwer sah auch weiterhin überhaupt keinen Anlass, tiefgründige Überlegungen anzustellen. Ebenso wenig, wie er Lust darauf verspürte, am Sonntagabend Gewichte mit drei Stellen hinter dem Komma zu addieren. Schließlich würde Kirchweih ihn im Nachhinein bei der Überreichung der Rechnung auch nicht fragen, ob er sich vorstellen könnte, lediglich die Quersumme des Betrages zu bezahlen.
»Ich halte mich da ganz raus, Günter. Schließlich bist du ja der Chef. Aber runter muss sie ja auf jeden Fall. Da sind wir uns vollkommen einig. Ich kann sie nämlich nicht ewig hier auf dem Sofa liegen lassen.«

Für Außenstehende konnte bei diesem Dialog der Eindruck entstehen, dem Kleinunternehmer Kirchweih fehle es ein wenig an Feingefühl und dem verwitweten Rentner an erkennbarer Trauer um seine verblichene Frau. Doch geheucheltes Mitleid und immer wieder erneuerte Beileidsbekundungen tragen zur Lösung des unmittelbaren Problems leider nichts bei.
Während Günther Kirchweih bereits auf dem Fahrersitz seines Mercedes-Kombi Platz nahm, ging Alfons Sandbeck in die Küche, holte eine Flasche Korn aus dem Kühlschrank und nahm einen kräftigen Schluck. Auf dem Tisch standen noch immer, aber sauber abgedeckt, das Rotkraut, die Salzkartoffeln und der Sauerbraten vom Mittagessen.
Ob nun geplant oder nicht – egal, wie oft Edith ihren Alfons am liebsten auf eine Mondmission ohne Rückfahrkarte geschickt hätte, für den Tag nach ihrem Ableben hatte sie trotzdem vorgesorgt. Der Ehemann musste am darauffolgenden Mittag lediglich aufwärmen.
Eine halbe Stunde später wurde Elke Bleicher Augenzeugin eines reichlich bizarren Vorgangs. Während ein Sarg am Haken in der nächtlich hell erleuchteten Gasse langsam in Richtung Boden schwebte, stand oben am Fenster ein Mann mit einer Flasche in der linken Hand und einem hoch in die Luft gestreckten rechten Daumen. Das Signal an den unten postierten Bestatter, offensichtlich alles richtig gemacht zu haben.
In diesem Moment wusste Elke nicht so recht, welchem Gefühl sie nachgeben sollte: Trauer über die verblichene Nachbarin oder der aufkeimenden Hoffnung, in Zukunft mehr Kontakt mit Alfons Sandbeck zu haben?

