Ouvertüre, Vorgeschichte oder als was immer es zu bezeichnen ist.
Den heutigen und den folgenden Donnerstag möchte ich dazu nutzen, euch in Form einer Erzählung von einer Begebenheit (vielleicht auch Zufall) berichten, die vom Ursprung zu einer ganz festen Freundschaft handelt.
Um den Einstieg zu erleichtern, stelle ich die Protagonisten vor, die (ob in einer Haupt- oder einer Nebenrolle erscheinend) das Gerüst zu dieser erfundenen Geschichte bilden.
Beginnen möchte ich mit den vier dicken Kumpels, deren Zusammenhalt durch manch fragwürdige Aktion im Kindergarten eine noch enger wurde.
Namentlich aufgelistet wären dies: Hannes Scheit, Kai Kaiser, Vasco Ritter und Dominik Müller.

Dazu gesellt sich gelegentlich noch ein gewisser Eberhard Brill (auch Ebse genannt), der sich jedoch im Umgang mit der „Viererbande“ meist recht schwertut.
Nicht übergehen sollte ich Birgit Morgenstern, die möglicherweise leicht desillusionierte Grundschullehrerin, der das fragwürdige Vergnügen zugeteilt wurde, ein Haufen Erstklässler auf das Leben vorzubereiten.
Und dann natürlich noch Selma Demir, die es nonchalant bewerkstelligt, den saarländischen Dialekt salonfähig zu machen. Sollten sich noch einige mehr Darsteller auf die Bühne wagen, wird dies dem Unterhaltungswert hoffentlich nicht schaden.
Teil 1 - Der erste Schultag
Frau Morgenstern führte dreiundzwanzig Erstklässler voller Optimismus und Tatendrang vom Schulhof in den Klassenraum, in dem den Heranwachsenden das Grundwissen vermittelt werden müsste, das viel, viel später darüber entscheiden sollte, ob aus dem verwöhnten, kleinen Quälgeist ein Vollidiot, Spießer, Streber oder Bürgermeister wird. Oder ob man mit achtzehn durch Zufall erkennt, dass in einem die Fähigkeit ruht, innerhalb einer halben Stunde zwei fast komplette Sätze aufs Papier zu bekommen, die sich dadurch auszeichnen, ohne Sinn und Verstand daherzukommen, aber die letzten Silben der Sätze sich zufällig reimen.
Keine Institution trägt mehr Schuld an den schlechten Texten im deutschen Schlager und bei Hip-Hop Interpreten, die es auf nicht nachvollziehbare Art und Weise dann auch noch schaffen, dass ihr Textmüll auf Tonträger gebrannt und zum Verkauf angeboten zu wird, als der viel zu rücksichtsvolle Umgang mit dem verzogenen Pack im Rotznasenalter.
Genau dies hatte Frau Morgenstern erkannt. Offenbarte ihre Erkenntnis jedoch nicht ihren Kollegen, sondern trat an jenem Morgen entschlossen den Kampf gegen das Unheil an. Schuld an diesem pädagogischen Alleingang war ein sonderbares Hörerlebnis, das ihr auf der Fahrt in ihrem Ford Fiesta kaum eine Stunde zuvor in die Ohren gedrückt wurde.
Es war um 7:10, als der Nachrichtensprecher des Saarländischen Rundfunks bereits sein Studio verlassen hatte, der Moderator des morgendlichen Programms den ersten Titel auf dem Weg in einen schönen Tag ankündigte und die junge Lehrerin im täglichen Stau zwischen Neunkirchen und Ottweiler stand. Anstatt das Nummernschild des Autos, das vor ihr fest hing, nach Primzahlen oder Geheimbotschaften aus dem Weltall durchzuchecken, lauschte sie in verhängnisvoller Weise dem Lied, das sich als ein heimtückischer Anschlag auf ihre Gehörgänge entpuppen sollte.
Du bist keine Mona Lisa.
Nein, im Louvre hängst du nicht.
Erst, wenn alles schön brennt.
Das ist dein Element.
Und dann strahlt dein Gesicht.
Du bist keine Mona Lisa.
Nein, harmlos bist du nicht.
Bringst mich um den Verstand.
Und das mit leichter Hand.
Trotzdem liebe ich dich.
1000 Geschichten erzählst du mir an einem Tag.
Lügst wie der Teufel, dass ich es kaum ertrag.
Die Katastrophen sind dein Lebenselixier.
Und geht alles voll daneben, liegt es eben an mir.
Du bist keine Mona Lisa
(Textpassage aus 'Du bist keine Mona Lisa' von Dirk Busch)
Birgit Morgenstern war zu diesem Zeitpunkt mal gerade 31 Jahre alt. Vier Jahre zuvor trat sie ihre erste Vollzeitstelle in dem Beruf an, den sie bis dahin immer als ihren Traumjob bezeichnete. Seit zwei Jahren war sie nun in dieser Stadt und hatte seither, in ihrem eigentlich für die Euphorie und Motivation reservierten Platz, viel Raum für Ernüchterung geschaffen.

An diesem Tag stand sie nicht nur im Stau, sondern auch vor der Herausforderung, die Meute der Schulanfänger in ihre Grenzen zu weisen, damit ihr wenigstens die Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die sie benötigte, um der ungebildeten Horde die Muttersprache als etwas vielfältig und Spannendes näherzubringen. Aber wie sollte ihr das gelingen, wenn der Heimatsender die Schulkinder beim morgendlichen Frühstück mit solchen Texten fütterte?
Ein reflexartiger Fingerdruck auf den Knopf und Mona Lisa hatte für immer ihr strahlendes Lächeln und der Interpret seine Stimme eingebüßt. Der Autor dieses mit Musik unterlegten Textes muss wohl zu einem früheren Zeitpunkt in einem Reaktorbecken gebadet haben, denn anders ist seine extreme Verstrahlung nicht zu erklären.
In diesem Moment nahm sich die engagierte Pädagogin vor, zukünftig mehr auf ihre innere Stimme zu hören und neuzeitlich gewonnene pädagogische Erkenntnisse erst mal ganz weit hinten anzustellen.
Nichtsahnend von dem neu gewonnenen Elan, den die junge Lehrerin mit in dieses Klassenzimmer brachte, stürmten Hannes Scheit, Kai Kaiser, Vasco Ritter und Dominik Müller auf die Örtlichkeiten zu, die sie für die nächsten Jahre in Beschlag zu nehmen gedachten. Ganz hinten links am Fenster schien es ideal zu sein. Dort angekommen, schmissen Kai und Vasco ihren Schulrucksack sofort auf die beiden Stühle am letzten Tisch. Ein unmissverständliches Zeichen für: Hier ist besetzt!
Dominik knallte nicht nur seinen Rucksack, sondern mit Elan sich selbst auf den Stuhl direkt vor Kai. Das überfallartige Manöver der vier Besetzer schien voll aufgegangen zu sein, bis Dominik nach links neben sich blickte und dort nicht seinen Freund Hannes, sondern Eberhard Brill sitzen sah. Neben jenem Eberhard Brill stand noch immer ein sichtlich genervter Hannes Scheit.

Hannes war in diesem unzertrennlichen Bund einerseits der Kreative, der nach Ansicht der restlichen drei Rabauken klasse malen und zeichnen konnte, anderseits, der mit wenig Worten oder gezieltem Schlag unmissverständliche Fakten zu schaffen wusste. Das lag mit Sicherheit daran, dass er als Jüngster in einer Familie aufwuchs, in der schon drei ältere Brüder ihre Spuren hinterlassen hatten. So profitierte er nicht nur von der Unmenge an Kriegsspielzeug aus deren Hinterlassenschaft, sondern füllte unentwegt seinen Wortschatz mit Sätzen auf, deren Eindeutigkeit kaum Platz für Interpretationen zuließ. Davon bekam Eberhard einen kleinen Vorgeschmack.
»Ebse, schleiche dich oder ich ziehe dir einen Scheitel.«
Hannes schlichte Aufforderung an den etwas nervös wirkenden Mitschüler, den er bereits aus dem Kindergarten kannte, unterstrich dies sehr eindrucksvoll. Da Eberhard Brill sich absolut sicher war, bereits am Morgen von seiner Mutter einen exakten Scheitel gezogen bekommen zu haben, fand er, es wäre besser, nicht auf das Angebot von Hannes einzugehen. Also griff er nach seiner Tasche und hielt Ausschau nach einem noch freien Platz. Bevor er sich jedoch auf den Weg machen konnte, gab ihm Hannes einen gut gemeinten Ratschlag mit: »Mach dich dünn, du Lutscher.«
Ob der junge Herr Scheit sich der Bedeutung dessen sicher war, was er da so von sich gab, darf bezweifelt werden. Das spielte für ihn keine Rolle. Hauptsache, Ebse hatte die Platte geputzt.
Vasco, dem das kurze Zwischenspiel natürlich nicht entgangen war, schenkte seinem Freund einen bewundernden Blick. Wie gerne hätte auch er dessen Vokabular öfter unter das Volk gestreut. Doch die vereinzelten Versuche während des gemeinsamen Abendessens im Kreis seiner Familie, wenn zum Beispiel Xenia, ohne Rücksicht auf seine Wünsche, ihm das letzte Brötchen vor der Nase wegschnappte und für ihn nur das vier Tage alte Vollkornbrot übrig blieb, scheiterten am hysterischen Geschrei seiner Mutter oder der linken Schlaghand seines Vaters.
Keine zwei Minuten, nachdem die Viererbande ihre Besitzansprüche manifestiert hatte, ergriff die Frau das Wort, die bisher nur als Fremdenführerin vom Schulhof ins Klassenzimmer wahrgenommen wurde.
»Alle hinsetzen und die Klappe halten!«
Dies war wahrhaftig der erste Satz der Grundschullehrerin Birgit Morgenstern, den sie überhaupt an das neu eingeschulte und mehr oder weniger wissbegierige Pack in dem Klassenzimmer der 1b richtete.
Möglicherweise irritiert über die Lautstärke des Befehls, mit Sicherheit eingeschüchtert durch die resolute Art, mit der sich die Lehrerin an das Jungvolk wandte, kehrte augenblicklich die Stille in den Raum zurück, die erst kurz zuvor durch den Einmarsch der jungen Gladiatoren vertrieben worden war. Alle Erstklässler schauten gebannt auf die Lehrerin, die da vorn zwischen Pult und Tafel stand. Außer Hannes Scheit in der vorletzten Bank direkt neben dem Fenster, durch das ein freier Blick bis zur Hauptstraße gewährleistet war.
Hannes spürte in seinem noch so jungen Leben das erste Mal etwas wie eine Seelenverwandtschaft. Da trat eine ihm wildfremde Person in sein unsortiertes Leben und bediente sich aus dem gleichen Wörtersee, in dem auch er immer wieder brauchbare Anwendungen findet. Birgit Morgenstern genoss ab diesem Moment seine volle Hochachtung.
Und man mag es glauben oder nicht, die junge Lehrerin hatte den kleinen Herrn Scheit mit dem lockeren Mundwerk schnell in ihr Herz geschlossen. Die nächsten vier Jahre empfand Hannes als das, von dem Wiederauferstandene immer behaupten, es sei der Himmel auf Erden.

»Wer von euch war schon zusammen im Kindergarten?«
Frau Morgenstern wartete geduldig darauf, wie viele Finger sich in die Höhe recken würden. Nachdem beim Letzten der Erstklässler die Frage im Hirnstübchen angekommen war, zählte die Klassenlehrerin sechzehn hochgestreckte Finger. Vier davon an den beiden letzten Tischen direkt neben dem Fenster. Sofort war klar, wo sie ihre Mission starten sollte. Doch bevor sie zur Tat schritt, bat sie jeden ihrer Schüler, doch einfach ein paar Sätze über sich zu erzählen. Es begann bei Paula Elst, erste Reihe vor dem Pult rechts und endete bei Vasco Ritter, letzte Bank an der Fensterseite links.
Die kurz vorgetragenen „Selbstporträts“ waren überwiegend typisch für Erstklässler. Es begann meist mit der Auflistung aller Verwandten und Haustiere, ob noch lebend oder schon entsorgt, spielte dabei keine große Rolle, gefolgt von Leidenschaften, wie Singen, Tanzen, Fußball oder einmal einen eigenen Bagger zu besitzen (O-Ton Hannes Scheit), hin zu Wünschen bezüglich der Zukunft. Paula Elst wünschte sich jedenfalls zum nächsten Geburtstag einen Stallhasen. Darüber war jetzt die komplette 1b informiert. Martina Staller bedauerte schniefend den Verlust ihres dritten Hamsters und Vasco Richter erzählte nicht viel von sich, sondern hatte stattdessen mehr Fragen auf Lager. Zum Beispiel, warum die Schule nicht so lange wie der Kindergarten dauerte und warum es in dem Laden kein Mittagessen gibt?
Birgit Morgenstern speicherte das Vorgetragene sorgfältig ab und beendete den ersten Schultag.
Ein paar Tage später begann das große Stühlerücken unter der Regie der noch immer resolut auftretenden Lehrerin. Anfänglich hegte die Viererbande die Hoffnung, sie blieben von der Rochade verschont. Doch je näher Frau Morgenstern den hinteren Tischen kam, umso unguter wurde das Gefühl im Magen der Kindergartenfreunde.
Als Erstes traf es Dominik, der seinen Platz räumen musste und mit Rucksack und gesenkten Hauptes vorne rechts neben Jens Bach seinen neuen Platz einnahm. Der nun freie Stuhl neben Hannes war reserviert für Eberhard Brill. Wahre Begeisterung über die Entscheidung mochte bei beiden nicht so recht aufkommen.
Dann, wie sollte es anders sein, dachte sich Vasco, war auch er schon an der Reihe. Dass es immer ihn traf, schrieb er seiner überschaubaren Größe und den langen roten Haaren zu. Mit den Körpermaßen aus der Horizontalen betrachtet, hatte er in diesem Fall nicht unrecht. Denn Kai konnte Frau Morgenstern unmöglich nach vorn verfrachten, da dann für die Lernwilligen hinter dem damals schon Hochgewachsenen eine freie Sicht auf die Tafel nicht mehr möglich gewesen wäre.

Doch die aufmerksame Pädagogin verfolgte mit diesem Schachzug ein ganz anderes Ziel. Ihr fiel an dem Tag auf, als sich ihre Schüler mit ein paar Sätzen etwas ausführlicher vorstellen sollten, wie unbeschwert Vasco seine Ausführungen vortrug, ohne die nicht nur in diesem Alter üblichen äh und ah einzubinden, sondern das Ganze in einem fehlerfreien Hochdeutsch präsentierte. Eine Fähigkeit, die die Mehrzahl seiner Mitschüler und Mitschülerinnen gänzlich vermissen ließen.
Ende von Teil 1 - am nächsten Donnerstag geht es weiter!

