Eine weitere Episode aus der Schillerstraße

Was bisher geschah:
Die Schillerstraße
Frau Theobald macht sich Sorgen

Das Haus mit der weißen 10 auf blauem Untergrund an der Fassade unterschied sich baulich selbstverständlich keinen Deut von unserer Hütte. Einzig, was dieses Haus von den anderen in der Schillerstraße positiv abhob, war die farbliche Vielfalt an den Außenwänden, die sich alle paar Jahre in der Farbfolge des Regenbogens veränderte. Dies machte in meinen Augen das Haus zu einem wahren Hingucker. Wenn die Architektur unbestreitbar eintönig ausgefallen war, brachte wenigstens Farbe mehr Leben ins Straßenbild. Mir gefiel es. Den anderen Anwohnern eher nicht, denn sonst hätten sie damals die Pfeiffers längst beauftragt, an der heimischen Hauswand den Pinsel zu schwingen.
Herr Pfeiffer und sein Sohn Peter hatten nämlich, Zufall oder nicht, die gleiche Berufswahl getroffen und verliehen Häusern innen wie außen neuen Glanz. Dies erledigten sie an Werktagen von 8 bis 17 Uhr im Auftrag ihres Chefs, dem Besitzer eines Maler- und Tapezierer-Fachgeschäftes in der Innenstadt. Nach Feierabend und samstags betrank man sich gemeinsam und investierte den Rest der Motivation in Schwarzarbeit. Die Reihenfolge spielte da keine große Rolle. Aber am liebsten beide Aktivitäten gleichzeitig. Mit der Arbeit am eigenen Haus betrieben sie demnach Werbung in eigener Sache.

Das schien indes eine ganze Weile prima zu funktionieren. Doch nach einem arbeitstechnischen Desaster hatte ich den Eindruck, als sei die Auftragslage für Schwarzarbeit in der Schillerstraße für das Team von heute auf morgen drastisch eingebrochen. Mit anderen Worten: Sie konnten sich vollends auf das Saufen konzentrieren. Diese veränderte Sachlage ist eindeutig mit dem Auftritt des Duos in engem Zusammenhang zu sehen, den sie hinlegten, als sie bei Familie Klein in Hausnummer 1, wo sie die unter der Dachschräge die nachträglich ausgebauten Kinderzimmer tapezieren sollten. Eigentlich keine Herkulesaufgabe für die Experten, als die sich das Pfeiffersche Gespann liebend gerne bezeichnete. Als größtes Hindernis entpuppte sich an jenem Tag, der bei Schwarzarbeitern durchaus übliche Arbeitsbeginn um 18 Uhr. Gemessen am Alkoholgehalt im Blut, bereits auf guter Betriebstemperatur, setzten sich die beiden zuerst einmal bei dem Ehepaar Klein an den Abendtisch, um die Vorgehensweise planstabsmäßig zu erläutern.
Was könnte beim Gedankensortieren bessere Dienste leisten, als eine Flasche Bier? Die strategisch wichtigste Aufgabe und da war man sich rasch einig, fiel an diesem ersten Abend Herrn Klein zu, der den Zuständigkeitsbereich "Getränkenachschub" zugeteilt bekam. Ohne dieses vorzügliche Schmiermittel bleibt keine Tapete an der Wand kleben, folgend dem Motto des alten Herrn Pfeiffer. Der junge Pfeiffer konnte dabei den Worten seines Vaters, aus langer Erfahrung heraus, zweifelsfrei zustimmen.
Nach Aussage von Herrn Klein, der seine traumatischen Erlebnisse von jenem Abend, am nächsten Tag meinem Vater überlieferte, musste das Team der Experten, noch vor dem Anrühren des Tapetenkleisters, einige Unebenheiten an den Trockenbauwänden mit Gips glätten. Beim Betrachten dieses Vorgangs beglückwünschte der Hausherr sich selbst und seine Entscheidung, im Vorfeld sicherheitshalber den Holzboden mit einer Plastikfolie abgedeckt zu haben. Denn insbesondere bei Peter Pfeiffer machte sich zu diesem Zeitpunkt zweifelsohne bemerkbar, dass die Koordination von Geist und Körper nicht mehr recht im Einklang schien. Fand ein Teil des Gipses seinen Weg an die Wand, landete jedoch der größte Teil auf dem Boden. Anstatt die verloren gegangene Ladung wieder aufzunehmen, ignorierte Peter den Haufen und bediente sich lieber aus dem großen Eimer. Die Hinterlassenschaften auf dem Boden trat er ungeniert auf der Plastikplane platt. Offensichtlich in der Hoffnung, es würde sich mit Sicherheit irgendwie festtreten.

Herr Klein, ein eher ruhiger Zeitgenosse, mit einem stabilen Nervenkostüm ausgestattet, wurde schonungslos vor Augen geführt, dass Schwarzarbeit manchmal sehr viel mit Sauerei zu tun haben kann – jedoch ohne Regressansprüche. Vielleicht fühlte er in diesem Augenblick schlichtweg leicht überfordert mit der Aufgabe, wie er möglichst schnell diesem Treiben auf dem umgebauten Dachboden ein Ende bereiten könnte, ohne einen handfesten Streit mit der stark alkoholisierten Nachbarschaft zu riskieren. Kurzerhand beschloss er, was sich aber als ein fataler Fehler herausstellen sollte, seinen Sinnesorganen eine kleine Ruhepause zu gönnen und ein Stockwerk tiefer sich mit seiner Frau zu beraten, wie das weitere Vorgehen aussehen könnte.
Kaum hatte Herr Klein seine Angetraute auf den neusten Stand der Dinge gebracht, konnte das Ehepaar vernehmen, wie sich jemand mit lautem Gepolter auf den Weg nach unten begab. Bevor die Hauseigentümer nachschauen konnte, was sich da in ihrem Treppenhaus abspielte, standen die beiden Pfeiffer live und in Farbe im Wohnzimmer. Während Peter etwas von dringend auf die Toilette nuschelte, monierte dessen Vater die Versorgungsschwierigkeiten mit dem Biernachschub.
Abgesehen vom Geschlecht, unterscheidet das Ehepaar Klein noch eine wesentliche Sache - nämlich die Belastbarkeit der Nerven. Wie bereits erwähnt, verfügt, was diese Charaktereigenschaft betrifft, der Ehemann über Drahtseile, während bei Frau Klein lediglich von hauchdünnen Fäden die Rede sein kann. Haargenau dies stellte sie, unmittelbar nach dem Eintreffen der torkelnden Arbeitsbrigade, hörbar unter Beweis. Nicht die Tatsache, dass Peter Pfeiffer um Erlaubnis bat, die angesammelte Flüssigkeit in seiner überstrapazierten Blase auf der Toilette ablassen zu dürfen, brachte Frau Klein an den Rand eines ausgewachsenen Nervenzusammenbruchs, sondern die unübersehbaren Gipsabdrücke auf der teuren Auslegeware im Flur und im Wohnzimmer. Die beiden Bierexperten mit Pinsel-Erfahrung hatten mit ihrem kurzen Ausflug dem dunklen Flor des Teppichs eine äußerst eigenwillige Farbgebung verliehen.
Was folgte, war ein kurzer und heftiger Wortwechsel, bei dem Frau Klein das Schlusswort für sich beanspruchte. Sie schrie, für alle Beteiligten klar und verständlich: »Raus!« Da nutzte dann auch Peters flehender Blick und seine fest auf das Überdruckventil in der Hose gepresste Hand nichts mehr. Ebenso das Wedeln mit der leeren Bierflasche von Pfeiffer "dem Älteren" erwies sich als zwecklos. Frau Klein hatte einfach die Faxen dick.

Quelle
Fünf Minuten später standen zwei Maler und Lackierer auf dem Asphalt der Schillerstraße. Herr Pfeiffer hielt sich am Mast der Straßenlaterne fest, während sein Sohn seine Pisse auf den Straßenbelag plätschern ließ. Wahrscheinlich wurde dem Leitwolf der Familie Pfeiffer erst in dem Augenblick klar, dass es kein Zurück auf diese Baustelle geben wird, als der Filius sein Ventil wieder eingepackt hatte und sie sich gemeinsam zur Tür des Hauses mit der Nummer 1 in der Schillerstraße wanden. Die zeigte sich jedoch fest verschlossen. Einzig aus dem Inneren des Gemäuers war eine aufgebrachte Frauenstimme zu hören. Der Weg zu Gips und Kleister blieb ihnen fortan versperrt. Was noch schlimmer wog, war die Erkenntnis, abrupt vom kostenlosen Biernachschub getrennt worden zu sein. Dies passte Herrn Pfeiffer Senior am allerwenigsten. Auf der Suche nach einem Schuldigen für das Desaster wurde er schnell fündig und schimpfte seinen Sohn einen Volldeppen und ausgewachsenen Zuchtigel. Der Sohnemann zeigte sich wenig beeindruckt von den Auszeichnungen, die ihm sein Vater gerade auf die Schulterblätter geheftet hatte, wankte auf seinen Erzeuger zu, der sich noch immer nicht von der Straßenlaterne trennen konnte, legte einen Arm um ihn und wagte sich gar an eine Prognose: »Dann trinken wir eben zu Hause noch eine Flasche.« Bei solch rosigen Aussichten fiel der Abschied von der Straßenlaterne nicht mehr allzu schwer und die beiden Gipsexperten stolperten Arm in Arm Richtung Hausnummer 10.
Am nächsten Abend konnten wir in der Schillerstraße beobachten, wie Frau Pfeiffer mit zwei vollen Einkaufstüten von der Arbeit zurück in Richtung ihres farbenfrohen Eigenheimes marschierte. Wenige Meter hinter ihr schlurften der Ehemann und das Prachtstück von Sohn. Dieses Gespann hatte bereits wieder genau die Betriebstemperatur, die es braucht, um gut gelaunt eine Schwarzarbeit in Angriff zu nehmen. Doch die Haustür von Familie Klein öffnete sich keinen Millimeter. Weder für den Zuchtigel, noch für dessen Erzeuger. Herr Klein hatte das Werkzeug der beiden Artisten, das sie am Abend zuvor an ihrem Arbeitsplatz zurücklassen mussten, einfach in den Plastikeimer gestopft, in dem eigentlich der Kleister für die Tapete hätte angerührt werden sollen, und vor die Tür gestellt.
Da Frau Klein keinen Hehl über die Erfahrungen mit dem Pfeifferschen Arbeitstrupp bei ihren Nachbarn in der Schillerstraße machte, verwundert es nicht, dass trotz prächtiger Eigenwerbung am eigenen Haus Folgeaufträge ausblieben.
Ob es sich bei der geschilderten Episode um etwas wie den #wochen-wahnsinn handelt oder von @blue.rabbit als solcher eingestuft wird - diese Entscheidung überlasse ich jenen, die sich mit der Materie besser auskennen.
