Zuerst die Eigentümer und später auch deren Hütte.

Heute gebe ich mich gemütlich und entspannt den Erinnerungen hin, lasse euch daran teilhaben und stelle (weil es gerade so schön passt) zwei ehemalige Mitglieder unserer Dorfgemeinschaft vor. Genauer gesagt, hat sich mein aktueller Rückblick an Frainček und seiner Frainčekica fest gehangen.
Nur zum besseren Verständnis sei dabei angemerkt, dass jener Frainček genaugenommen eigentlich Franjo hieß. Ein Vorname, der nördlich der Alpen eher als Franz im Umlauf ist. Der angerichtete Namenssalat erhielt seine Zutaten, da hier, auf dem hügligen Land, fast nie jemand mit seinem amtlich beglaubigten Namen angesprochen wird. Es ist der Beiname, unter dem der Opa oder vielleicht auch schon der Ur-Opa bekannt wie ein bunter Hund war und um Verwechslungen aus dem Weg zu gehen, an die folgende Generation weitergegeben wird.
Es kann auch nicht als Zufall bezeichnet werden, wenn Frainčeks treu sorgende Ehefrau auf den nahezu identischen Vornamen wie der Gatte bei Zuruf reagiert. Denn Frainčekica heißt zwar Marija, ist aber vordergründig als die Person an der Seite von Frainček auszumachen. Somit ist sie auf der Liste vom unverzichtbaren Inventar ziemlich weit nach oben gerückt – was der neugewonnene Vorname dann auch ausdrückt. Die Eigentumsverhältnisse sind somit geklärt. Das doo iss Meins! So, oder ähnlich, würde sich der Saarländer ausdrücken.
Frainček mitsamt seiner Familie war nie dem Stand im Dorf beizuordnen, die als Bauern gelten. Bauern haben Land. Viel Land. Sie besitzen Vieh, große Gärten, einen noch größeren Weinberg, hohes Ansehen und ein Gehöft, welches diese Bezeichnung auch verdient hat.
Von alledem konnte unser heutiger Hauptdarsteller nur träumen. Erst drückte er brav drei Jahre die Schulbank und ernährte sich anschließend Tag für Tag mit der Hoffnung, dass einer der Bauern für den kommenden Tag einen Helfer benötigt.
An diese unerschütterliche Zuversicht lehnte sich Frainček bis zu jenem Tag, als die neuen Machthaber im Land (nämlich die bei Bauern und Katholiken gleichermaßen verhassten Kommunisten) einen Schlussstrich unter die Taglöhnerei zu setzen versuchten. Dies versuchten sie, indem sie Großgrundbesitzer beschnitten und jene abgetrennten Ackerfetzen an den „Habenichts“ weiterreichten. Vollkommen egal, wie nobel der Wille hinter der Aktion auch sein mochte, für das Miteinander im Dorf war es zweifelsfrei kontraproduktiv.
Die neu auserkorene Zunft der Kleinstbauern durfte sich zwar über Ackerland freuen, besaßen jedoch meist weder Saatgut noch die notwendigen Utensilien, um überhaupt das Land für die Aussaat vorzubereiten. Da kam der Ruf aus dem fernen Deutschland oder aus Österreich wie eine Verlockung daher.
Scheiß auf den Spaten und die Harke – ran an die Schaufel und die Schubkarre mit Gummirad!

Frainček war zwar nicht unbedingt einer der Hellsten im Kopf, aber taub war er mit Sicherheit nicht. Es verstrichen keine drei Monate und unser Dorf verzeichnete den Abgang von mindestens fünfzehn Kleinstbauern, die bestens gelaunt Tage zuvor den Bus mit Fahrtrichtung Norden bestiegen hatten. Woher ich das so genau weiß? Weil ich derjenige bis heute bin, der den Rückkehrern die bürokratischen Hürden bis zur Rentenzahlung aus dem Weg räumt.
Im Zuge dieses personellen Aderlasses in der Dorfgemeinschaft, erscheint mir der Fakt erwähnenswert, dass in jenen Transportmitteln über die Alpen hinweg, ausschließlich Männer saßen. Auch Frainčekica beließ ihre gehäkelten Unterhosen und das Baumwoll-Mieder im häuslichen Kleiderschrank. Nicht, dass es für sie keine Unterkunft nahe der neuen Arbeitsstelle ihres Mannes gegeben hätte. Nein, ihr fiel die ehrenvolle Aufgabe zu, das neu in den Besitz gekommene Land zu hüten, ähnlich dem berühmten Augapfel, auf den ebenfalls stets gut geachtet werden sollte.
An diese Vorgabe (und da kann mir heute einer erzählen, was er auch will) hielten sich alle grünen Witwen. Insbesondere jene, die sich plötzlich auch getrauten, am Abend das gemütliche Beisammensein vor dem Gemeindehaus anzusteuern. Was bislang ausschließlich den Ehemännern vorbehalten war. Tuba, Mandoline, die Trommel und die Geige bekamen Zuwachs durch den Damenchor. Und wie das meist so ist, wenn Frau so intensiv auf ihren Augapfel achten muss, frönen andere Körperteile ihrer Leidenschaft in einer plötzlich erworbenen Freiheit.
Wer mochte es ihnen auch verdenken? Man kann auch nicht ständig alles am eigenen Körper unter Kontrolle haben. Zumal die Bauern, die auch nach der Land-Beschneidung mit Fug und Recht noch immer als solche bezeichnet werden konnten, in Anbetracht der neu entstandenen Situation, ihren noch immer gehegten Groll wegen der Enteignung, bei Gelegenheit weit nach hinten schieben konnten.
Das muntere Gesellschaftsspiel des Gebens und Nehmens kam somit prächtig in Fahrt.
Plötzlich durfte beobachtet werden, wie nächtens an der Weinrebe ein Bündel geräucherte Würste vor dem Besitzerwechsel eine kurze Rast einlegte oder die Seite Speck, bestenfalls auch roher Schinken, neben der Birne oder dem Apfel am Baum hingen.
Die Nebenwirkungen dieses Ringelspiels mit Anfassen sind heute noch sichtbar. Der beste Spruch, zu dieser Zeit passend, steckt mir meist Mara zu, die zwar alles gesehen, jedoch nicht mitmischen durfte, da sie die Tochter des Tierarztes war. In ihrer, vom Status des Vaters geprägten Situation, lautete das Motto: Berührung nur unter Lebensgefahr – für Mensch und Tier gleichermaßen.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, kommt dann von Mara ein Hinweis von folgendem Kaliber: „Beim nächsten Mal, wenn du mit Marijan im Gespräch bist, dann betrachte sein Gesicht einmal ganz genau. Hinterher sagst du mir dann, wem der unverkennbar ähnlich sieht.“
Ganz umsonst gibt es das schmückende Beiwerk über die innerörtliche Genvermischung natürlich nicht. Vorher muss ich mir zum x-ten Mal die Geschichte von Maras Ex-Mann anhören, der sich nach nur drei Jahren Ehe aus dem Staub machte. Was die Verlassene auch für ganz in Ordnung hielt, da das mit den Männern wahrhaftig nicht das Gelbe vom Ei für sie zu sein schien.
Aus welchem Grund Frainček seine Exkursionen auf den Baustellen rund um Heidenheim noch vor Erreichen der Pensionsgrenze einstellte und den Bus zur Rückreise bestieg, sollte für immer sein Geheimnis bleiben. Ein Blick in seine Unterlagen aus jener Zeit verriet mir allerdings, dass der gute Mann besser mit seinem Arsch zu Hause geblieben wäre. Fehlzeiten, Erwerbslosigkeit und Einkommen am Existenzminimum ließen mich bereits beim Ausfüllen der Anträge nichts Gutes für die Eingänge auf seinem extra eingerichteten Bankkonto erahnen.
Wer jetzt glaubt, dass der Frühheimkehrer seine Energie, anstatt an Schaufel und Schubkarre, jetzt an seinen nahezu verwaisten Feldern und seiner überaus glücklichen Frainčekica abarbeiten würde, der hat sich schwer geirrt. Da die bereits erwachsene Tochter der beiden, inzwischen ihr Heil in der Stadt suchte, organisierte Frainček kurzerhand Ersatz. Diesen fand er in der Gestalt eines kleinwüchsigen Hundes, der an Sortenvielfalt so alles in sich zu tragen schien, was in den vergangenen fünfzig Jahren auf dem hügligen Land das Bellen erlernt hatte. In einer geheim abgehaltenen Taufzeremonie wurde dem kleinen Kläffer der Name Bimbo zugeteilt.
Egal, wie tief man seine Nase auch in den Fundus der slawischen Sprachen stecken möchte, auf der Suche nach dem Namen Bimbo wird man höchstwahrscheinlich nicht fündig. Da Frainčeks abrufbarer deutscher Wortschatz (lässt man äh, aha und oh unberücksichtigt) mit einer leeren Schublade vergleichbar schien, drängte sich mir die Frage auf, unter welchem Pseudonym oder gar offiziellem Rufnamen mein indirekter Nachbar in und um Heidenheim sein Unwesen trieb?

Fortan saßen Kläffer Bimbo und Herrchen Frainček tagein tagaus nebeneinander vor dem Haus und beobachteten, was sich so in der näheren Umgebung abspielte. Jeder, der das unzertrennliche Duo passierte, wurde mit immer den gleichen Adverbien überschüttet: wieso, warum, weshalb und wohin. Da der Fragende nach kurzer Zeit keine Antworten mehr erhielt und Bimbo vergebens auf Freilauf hoffte, stumpfte der Zweibeiner geistig komplett ab, während der Vierbeiner seinen Frust in Aggression umwandelte.
Die Quintessenz, gezogen aus der Beobachtung des Tagesablaufs des Dreigestirns „Bimbo-Frainček-Frainčekica“ (und nicht in ihrer philosophischen Interpretation), ließ keine andere Diagnose als die „totale Desozialisierung“ zu. Das Herrchen abgekoppelt vom hier und jetzt, Frauchen drauf und dran mit der Altersdemenz zukünftig gemeinsame Sache zu machen, während Bimbo seinen natürlichen Sinn für das Machbare verloren zu haben schien.
Dies offenbarte sich insbesondere dann, wenn ich mit meinem Hund den Ort der Trostlosigkeit passierte. Bimbo zerrte an seiner Leine, die Frainček jedoch erst losließ, als sein eigenes Abheben in den freien Flug bereits beschlossen schien. Bimbo stürmte auf Amigo und mich zu, überlegte kurz, wen er jetzt zuerst beißen sollte und entschied sich stets falsch. Ganz offenbar noch so weit helle im Kopf, um zu erkennen, dass sein Artgenosse an meiner Seite in einer vollkommen anderen Gewichtsklasse kämpft, fiel mir daher zwangsläufig die Opferrolle zu. Ob Wade oder Oberschenkel, das schien Bimbo egal. Doch bevor der bissige Kläffer überhaupt im Sprung sein anvisiertes Ziel erreichte, zwang Amigo den Störenfried mit einer kurzen Schüttel-Aktion in die passive Rückenlage.
Einmal hatte ich, während des sich immer wiederholenden Tohuwabohus, das Vergnügen, Frainčeks Mimik zu beobachten, während Bimbo sich selbst das Scheitern seiner Mission eingestehen musste. Des Herrchens Unter und Oberkiefer standen weit aufgerissen voll auf Empfang, während das dazwischen gelagerte Gebiss noch im Tiefschlaf schien und das Spiel in der Schwerelosigkeit für einen kurzen Moment genießen konnte. Wie gerne hätte ich meinen Nachbarn gebeten, mir dieses Kunststück nochmals vorzuführen.

Der Lauf der Zeit vermasselte mir die Möglichkeit, diese sensationelle Vorführung in Bildfolge festzuhalten. Frainček trennte sich kurz danach nicht nur von seinem Gebiss, sondern darüber hinaus auch noch von seinem gesamten Leben. Offenbar für seine Frainčekica der entscheidende Fingerzeig des Allmächtigen, sich nun gänzlich der Demenz hinzugeben.
Nachdem Vertreter der zuständigen Behörden der Tochter in der Stadt schonend beigebracht hatten, dass Bimbo als Familienoberhaupt und unterschriftsberechtigter Hauseigentümer die schlechteste Wahl sei, standen zwangsläufig Umzüge an. Frainčekica fristete den Rest ihres Daseins in einer ihrer eigenen Welt, weit weg vom hügligen Land, während Bimbo sich an seine neue Rolle als Wachhund im ortsnahen Veterinäramt gewöhnen musste.
Jetzt steht es da, das ehemalige Zuhause von Frainček und Frainčekica und wartet geduldig, bis es von der Zeit gefressen wird.

