Liebe Leser,
heute ist der 50.Todestag der österreichischen Kernphysikerin Lise Meitner (*1878 Wien; † 1968 Cambridge, UK), die bedeutende Beiträge in der Nuklearphysik geleistet hat und der die erstmalige theoretische und kernphysikalische Deutung der Kernspaltung gelungen war, eine der folgenreichsten Entdeckungen der Menschheit.
Biographie
Meitner war erst die zweite Frau, die an der Wiener Universität im Hauptfach Physik promovierte (1906). Das zeigt schon, wie männerdominiert die Naturwissenschaften damals waren. Sie arbeitete zunächst am Institut für Theoretische Physik in Wien, ging dann aber 1907 schon nach Berlin (wegen Max Planck, dessen inoffizielle Assistentin sie eine zeitlang war), wo sie den ein Jahr älteren Chemiker Otto Hahn traf, mit dem sie über 30 Jahre lang zusammenarbeitete und zeitlebens freundschaftlich verbunden war. 1926 wurde sie ao. Professorin für experimentelle Kernphysik an der Berliner Universität und damit Deutschlands erste Professorin für Physik. 1933 wurde Meitner aufgrund ihrer jüdischen Abstammung die Lehrbefugnis entzogen, 1938 gelang ihr die Ausreise ins Exil nach Schweden, wo sie ihre Forschungen am Nobel-Institut fortsetzten konnte. Nach dem Ende des 2.Weltkriegs blieb sie dort und leitete die kernphysikalische Abteilung der Königlich TU Stockholm, neben Gastprofessuren in den USA. 1960 emeritierte sie und übersiedelte sie nach Cambridge, UK, zu ihrem Neffen Otto Robert Frisch, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte.
Über das Privatleben von Lise Meitner ist recht wenig bekannt, sie war ein sehr zurückhaltender Mensch und überzeugte Pazifistin. Mit der Kernwaffenentwicklung wollte sie nie etwas zu tun haben.
Quelle, © Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin
Entdeckung der Kernspaltung
Otto Hahn und sein für die chemischen Analysen verantwortlicher Assistent Fritz Straßmann führten seit 1935 (neben einer anderen Gruppe in Paris und dem ersten, der dies versucht hatte, Enrico Fermi) Experimente durch, bei denen sie Uran mit Neutronen beschossen (mit der heute noch erhaltenen Versuchsanordnung, s. Bild). Die allgemeine Annahme war, dass dadurch schwerere Elemente als Uran (sogenannte Transurane) entstehen würden,
stattdessen fanden sie aber viel leichtere, in der Natur nicht vorkommende radioaktive Bariumisotope.
Offenbar „zerplatzten“ die Atomkerne (so formulierte es Hahn zunächst), was sich die Chemiker nicht erklären konnten, da es im Widerspruch zum damaligen Konzept eines "unteilbaren" Atoms stand.
Versuchsanordnung von Hahn und Strassmann 1938, deutsches Museum München Quelle Creative-Commons-Lizenz
Er schrieb Lise Meitner, die er sehr schätzte, am 19.Dez. 1938 einen Brief nach Stockholm und erzählte vorerst nur ihr von seinen Beobachtungen:
"Wäre es möglich, dass das Uran 239 zerplatzt in ein Ba und ein Ma? Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören. Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen. Eventuell könntest du etwas ausrechnen und publizieren.“
Meitner, die Weihnachten 1938 von ihrem Neffen, dem Kernphysiker Otto Robert Frisch (der bei Niels Bohr am Institut für Theoretische Physik in Kopenhagen forschte), besucht wurde, erzählte Frisch von dem Brief und gemeinsam tüftelten sie während eines Spaziergangs in der Nähe von Kungälv bei Göteborg (dorthin war sie von einer Freundin eingeladen worden) an einer Erklärung. Sie begannen auch auf Zetteln zu rechnen und fanden schliesslich die verblüffende Lösung:
Die beiden Bruchstücke, die bei der Spaltung (das Wort Spaltung (nuclear fission) wurde von Frisch geprägt und setzte sich später durch) entstehen, haben zusammen eine etwas geringere Masse als der ursprüngliche Uranatomkern. Aus dieser Massendifferenz errechneten Meitner und Frisch (mittels Einsteins Formel E=mc²) die bei der Spaltung freiwerdende Energie von etwa 200 Millionen Elektronenvolt pro gespaltenem Uranatom, was für damals eine ziemlich genaue Berechnung war. Diese ernorme Energiemenge ergibt sich aus dem Umstand, dass die beiden Bruchstücke sich wegen ihrer positiven Kernladungen stark voneinander abstossen.
Übrigens hatte bereits 1934 die deutsche Chemikerin Ida Noddack eine ähnliche Vermutung:
„Es wäre denkbar, daß bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere größere Bruchstücke zerfallen, die zwar Isotope bekannter Elemente, aber nicht Nachbarn der bestrahlten Elemente sind.“
Doch diese - richtige - Vermutung blieb völlig unbeachtet (auch da Noddack nichts unternahm, um ihre damals sehr gewagte Vermutung experimentell oder theoretisch zu untermauern).
Frisch fuhr Anfang Januar nach Kopenhagen zu Nils Bohr zurück. Als er ihn über die neuesten Ergebnisse aus Berlin seine und Meitners Schlussfolgerungen informierte, schlug dieser sich mit der Hand an die Stirn und rief: „Ach, was für Idioten wir doch alle waren! Das hätten wir voraussehen können.“
Im Februar 1939 veröffentlichten Meitner und Frisch diese allererste physikalisch-theoretische Deutung des von Hahn und Strassmann entdeckten „Zerplatzens“ des Uran-Atomkerns in dem Aufsatz „Disintegration of Uranium by Neutrons: a New Type of Nuclear Reaction“ in der Zeitschrift "nature".
Kein Nobelpreis
Für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung wurde Otto Hahn 1945 der Nobelpreis für Chemie verliehen (überreicht wurde er erst 1946). Lise Meitner und Otto Frisch wurden dabei nicht berücksichtigt - aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar. Denn Otto Hahn hatte die berühmte Versuchsanordnung nach einer Anweisung von Lise Meitner aufgebaut. Lise Meitner hatte zwei der drei entscheidenden Bausteine für die Entdeckung der Kernspaltung geliefert, Versuchsaufbau und Theorie. Otto Hahn führte die Experimente aus und konnte sich das entdeckte Phänomen zunächst nicht erklären. Die Begründung der Jury war, dass Meitner als Physikerin nicht einen Chemie-Nobelpreis erhalten könne und dass sie zur Zeit der Experimente in einem anderen Land war. Nach heutigen Maßstäben sind beides sehr schwache Argumente und so gilt diese Entscheidung als einer der größten Fehler des Nobelpreiskomitees. Im Komitee saß übrigens auch Meitners damaliger Arbeitgeber, der mehrmals gegen sie gestimmt hatte, wie sich Jahrzehnte später herausstellte.
Die Folgen
Die Resonanz dieser Entdeckung war sehr groß. Bis Dezember 1939 erschienen mehr als 100 Publikationen, die sich alle mit der Kernspaltung befassten.
Rückblickend schrieb Meitner in ihrer bescheidenen Art:
„Die Entdeckung der Uranspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann hat ein neues Zeitalter in der Geschichte der Menschheit eröffnet. Die dieser Entdeckung zugrunde liegende wissenschaftliche Leistung scheint mir darum so bewundernswert, weil sie ohne jede theoretische Wegweisung auf rein chemischem Weg erreicht worden ist.“
Für die damalige Zeit ungeheuer schnell wurde auch das Potential dieser Entdeckung erkannt. Denn ein wichtiger Umstand wurde bislang nicht erwähnt: Bei jedem Spaltprozess werden neben den beiden Bruchstücken auch noch einige Neutronen freigesetzt, die in anderen Urankernen weitere Spaltvorgänge auslösen können. Diese Kettenreaktion bewirkt es erst, dass eine extrem hohe Energieausbeute entsteht, deren technische Nutzbarkeit man sofort anstrebte. Bis zur Verwirklichung dieser Idee dauert es nur drei Jahre! Ansporn zu dieser technologischen Meisterleistung durch die US-Amerikaner war der 2. Weltkrieg, denn die Amerikaner wussten, dass auch die Deutschen (und andere Nationen) an einer "Uranbombe" forschten. Im Manhatten-Projekt arbeiteten über 150000 Menschen im Geheimen zusammen. Der erste menschengemachte Atomreaktor, Chicago Pile 1 genannt (von Enrico Fermi an der Universität Chikago erbaut) wurde im Dezember 1942 „kritisch“ (= die Kettenreaktion lief selbständig und der Reaktor produzierte Energie). Weniger als drei Jahre später, im Juli 1945 wurde dann die erste Atombombe gezündet (in einer Wüste in New Mexico) und am 6.August wurde "Little Boy" über Hiroshima abgeworfen und damit ca. 300000 meist Zivilisten getötet (Langzeitstrahlenschäden nicht mitgerechnet).
Die erste militärisch eingesetzten Atombombe vor ihrer Verladung in den B-29 Bomber Enola Gay Quelle Public Domain
Wenn Deutschland nicht schon im Mai 1945 kapituliert hätte, wäre vermutlich die erste militärische Atombombe über Berlin, Ludwigshafen oder Mannheim explodiert. Otto Hahn, der in britischer Gefangenschaft von den beiden Atombombeneinsätzen gehört hatte, war am Boden zerstört und dem Suizid nahe.
Diese ungeheure, ja obszöne Vernichtungskraft ist seither ein Paradebeispiel für die Schattenseiten der Wissenschaft, für den Verlust ihrer "Unschuld" und auch darüber, wie Entdeckungen völlig unabsehbare Folgen haben können.
Die Pazifistin Meitner weigerte sich stets, Forschungsaufträge für den Bau einer Atombombe anzunehmen, obwohl sie von den USA öfter dazu aufgefordert wurde.
Das erstmals 1982 entdeckte transurane Element mit der Ordnungszahl 109 wurde 1997 ihr zu Ehren in Meitnerium umbenannt.
mehr dazu:
https://www.wissen.de/lise-meitner-verkannte-pionierin-der-kernspaltung
https://de.wikipedia.org/wiki/Lise_Meitner
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Hahn
Formeln: https://de.wikipedia.org/wiki/Entdeckung_der_Kernspaltung