Eine Rochade mit weitreichenden Folgen
Wer den Tag der Einschulung verpasst haben sollte, hat hier die Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen.
Birgit Morgenstern verband ihre Hoffnung mit dem Kopiereffekt, der damit eintreten könnte, wenn sie den jungen Herrn Ritter neben jemanden Platz nehmen lässt, die oder der des Hochdeutschen momentan nicht sonderlich zugeneigt zu sein schien. Um die Erfolgschancen dieses Experimentes zu erhöhen, musste Vasco somit seinen Platz neben einem Mädchen beziehen.
Denn Jungs untereinander neigen eher dazu, in den üblichen Straßendialekt zu verfallen.

In diesem Fall hatte die Lehrerin an die zierliche Dame vorn am zweiten Tisch in der Mitte gedacht, deren etwas dunkler Teint auf einen Migrationshintergrund schließen ließ. So führte sie Vasco nach vorn und bat Hanna Kranz, die neben dem dunkelhaarigen Mädchen saß, ihren neuen Platz neben Kai einzunehmen.
Hannes verfolgte diese Entscheidung mit Genugtuung. Denn rückblickend hatte es ihn dann doch nicht so hart wie Kai und Vasco getroffen. Ein Mädchen neben ihm, das wäre einem „größten anzunehmenden Unfall“ gleichgekommen. Was sollte man mit denen überhaupt reden? Dann war ihm Ebse sogar noch lieber. Den würde er sich mit der Zeit nach seinen Vorstellungen zurechtbiegen.
So ist es der weisen Entscheidungen einer motivierten Grundschullehrerin zu verdanken, dass im Klassenzimmer 1b der Grundschule zwei Menschen plötzlich nebeneinandersaßen, die beide in der gleichen Stadt wohnten, sich allerdings nie vorher über den Weg gelaufen waren. Der kleine Mann mit dem schulterlangen roten Haar schaute dem Mädchen ins Gesicht und sagte: »Ich heiße Vasco.«
Was er nicht sagte, sondern nur erleichtert zur Kenntnis nahm, war die Tatsache, dass diese Person so gar nichts gemein mit dem Typ Mädchen hatte, zu der seine Schwester gehörte. Nämlich, überall von allem zu viel und ein loses Mundwerk noch dazu. Diese Sorte hätte er wohl nicht ertragen.
Die junge Dame in ihrer Jeans und der karierten Bluse blickte zu Vasco und fragte: »Kann isch die mol aangeife?«

Vasco wusste sofort, was sie meinte. Er nickte nur. Ganz vorsichtig griffen ihre Finger in das rote wallende Haar.
»Die sinn soo scheen.«
Nach einer ganz kurzen Pause folgte dann noch: »Ich bin es Selma.«
Selbstverständlich fiel Vasco sofort der tiefe Dialekt auf, den seine neue Tischnachbarin nutzte, um sich auszudrücken. Er hätte keine Probleme, sich von einer auf die andere Sekunde in diese Mundart einzufinden. Doch bei ihm zu Hause war dies Form der Kommunikation verpönt, er selbst hatte sich an das Hochdeutsch gewöhnt und nutzte den Dialekt eigentlich nur, wenn er mit den anderen drei Chaoten am Nachmittag auf dem Bolzplatz weilte. Aber auch dort nicht immer.
Frau Morgenstern ließ den neu gebildeten Pärchen ein paar Minuten Zeit, sich zu beschnuppern, bevor sie mit dem Unterricht beginnen wollte. Dies nutzte Hannes zu einer Art Wiederannäherung an Eberhard Brill nach dessen nicht ganz freiwilligem Platzwechsel am ersten Schultag.
»Soll ich dir nachher ein Tattoo auf den Unterarm zaubern? Einen Dinosaurier oder ein Pferd? Ich kann dir aber genauso gut einen Bagger malen.«
Ebse kannte ja schon Bilder von Hannes, die der im Kindergarten gemalt hatte und wusste daher, dass es so schlimm nicht werden konnte. Aber gleich am ersten Tag? Mit welchen Vorschlägen würde er dann morgen kommen? So entschied sich Ebse, Hannes bis auf morgen in der großen Pause zu vertrösten, da er sich über das Motiv nicht so sicher sei. Der Filzstift-Tattoo-Künstler akzeptierte die Entscheidung seines potenziellen Kunden und drehte sich zu Kai um, der mit Hanna zufrieden zu sein schien. Zumindest redeten die beiden miteinander.
Da Hannes mit seiner Botschaft nicht länger hinter dem Berg halten konnte, unterbrach er die Unterhaltung am letzten Tisch und sagte: »Kai, morje losst sich de Ebse a Tattoo von mir schtesche.«
Warum er jetzt plötzlich in die Dialektkiste griff, bleibt rätselhaft. Vielleicht war er der Meinung, dass Eberhard ihn nicht verstehen würde, da der mit seinen Eltern erst vor zwei Jahren aus Hannover nach Ottweiler gezogen war. Doch bei dem Wort stechen, zuckte der junge Herr Blum zusammen. Hatte Hannes nicht vorher was von Malen erwähnt? In dieser Angelegenheit war definitiv das letzte Wort noch nicht gesprochen. Zumal Kai seinem Freund für den Auftrag gratulierte und ihm den Ratschlag gab: »Mach was für die Ewigkeit.«

Als die Lehrerin auf ihrem Weg zum Pult am Tisch von Vasco und Selma vorbeiging, blieb sie kurz stehen und bat die beiden doch bitte nach der Stunde kurz zu ihr nach vorn zu kommen.
Dann begann endlich der reguläre Unterricht. Der Schulalltag hatte die Schüler der 1b voll im Griff.
Wie von Frau Morgenstern erwünscht, begaben sich Selma und Vasco nach vorn, um zu erfahren, was die Lehrerin von ihnen wollte. Die war dabei, ein paar Einträge ins Klassenbuch zu schreiben, schloss diese Arbeit rasch ab und wandte sich ohne große Vorrede an ihre beiden Erstklässler.
»Könnt ihr bitte eure Eltern fragen, ob es möglich wäre, dass ihr eure Hausaufgaben zusammen erledigt? Wenn die nichts dagegen haben sollten, würde ich dich, Vasco, bitten, mit Selma nur Hochdeutsch zu sprechen. Das erachte ich für überaus wichtig. Und du, Selma, du versuchst dann, allmählich, immer mehr wie Vasco zu reden. Du musst unbedingt Hochdeutsch lernen. Versprichst du mir das?«
Anstatt, dass Selma ein Versprechen abgab, musste sich die besorgte Lehrerin mit der Ankündigung begnügen, sie würde ihre Mutter fragen.
Für Vasco stand, ohne für sich selbst in dieser Sache eine Entscheidung getroffen zu haben, von vorneherein fest, dass er auf gar keinen Fall seine Eltern fragen würde. Die interessierte nicht einmal, ob er mit Bofrost-Futter zufrieden ist. Wieso sollten sie dann entscheiden, mit wem er die Hausaufgaben macht? Ob er nun allein zu Hause saß oder Selma ihm Gesellschaft leistete, den Tagesablauf seiner Eltern tangierte das in keinerlei Hinsicht. Jetzt, in diesem Moment, neigte er zumindest dazu, der Bitte seiner Lehrerin nachzukommen. So lag es in den Händen von Selmas Eltern, ob es zu dem Teamwork Selma/Vasco kommen würde.
Gleich am nächsten Morgen erstattete Selma Bericht.
»Mei Mama will disch gääre amol kenne leere. Sie will wisse, mit wem isch die Uffgawe mache soll.«
»Und wann soll ich vorbeikommen?«
»Ei am beschde wärs, wenn ma direkt no de Schuul zu uns gehn. Dann kannschde aach gleich bei uns esse. Abgemacht?«
Selma blickt Vasco mit ihren großen Augen erwartungsvoll an. Der Befragte dachte kurz an die Mikrowelle und an Bofrost. Xenia, seiner Schwester, würde ohnehin nicht auffallen, ob er jetzt zu Hause war. Nichts sprach also gegen einen Besuch bei Selmas Mutter.
»Abgemacht.«
»Scheen, isch fraje misch.«
Dass sie sich wahrhaftig freute, war der kleinen Dame anzusehen, denn sie strahlte über das ganze Gesicht.
In der großen Pause stand Vasco ein harter Gang bevor. Er musste Kai, Dominik und Hannes beibringen, dass das mit dem gemeinsamen Nachhauseweg heute nicht wie üblich ablaufen wird. Ob vom Kindergarten oder jetzt die paar Tage Schule – der Weg hin oder zurück, erfolgte stets im Viererpack und das, obwohl man nicht einmal im selben Viertel wohnte.
Dominik, der nur wenige Häuser entfernt vom Anwesen der Familie Ritter mit seinen Eltern und Großeltern heimisch wurde, machte am Morgen den Anfang. Er klingelte bei Vasco, der meist bereits wartend auf der Treppe der Ankunft des Freundes entgegenfieberte. Im Doppelpack ging es dann den Berg runter in Richtung Altstadt. Bevor man die jedoch erreichte, musste die Hauptstraße überquert werden, die irgendwo in den Vororten endet.
Direkt auf der anderen Seite des Zebrastreifens steht ein Doppelhaus, in dessen linker Hälfte Kai mit seiner Großmutter lebte. Von Oma Kaiser führt ein Fußweg zum Sportplatz, an den der große Kirmesplatz grenzt. Und genau neben dem Kirmesplatz residierte Hannes mit seinen Eltern und den drei Brüdern. Dem Ehepaar Scheit wurde übrigens nachgesagt, sie verfügte über ein ausgesprochen gutes Nervenkostüm. War Hannes endlich aus dem Haus getrommelt, ging es nur noch bergauf.
Hinauf auf den Hügel, auf dessen fast höchstem Punkt der Bildungspark, mit der Grund- und Gesamtschule sowie das Gymnasium, thront. Diese Wege sind für die Stadt jedoch ganz charakteristisch, da der Marktplatz mit der Altstadt den tiefsten Punkt der Stadt markiert. Von dort aus geht es in alle Himmelsrichtungen nur bergauf.
Es ist gar nicht so lange her, da wurde Vasco Zeuge einer Meinungsäußerung eines Freundes seines Vaters, der es sich im Wohnzimmer ein gemütliches Plätzchen gesichert hatte und sich fest an eine Flasche Bier klammerte. Jener Mann war jedenfalls überzeugt, Ottweiler sähe nicht ohne Grund wie ein umbautes Loch aus, denn so ließe die Stadt sich besser zuscheißen.
Vasco fand allein die Vorstellung bereits so spannend, dass er diese Sicht auf die Dinge sofort abspeicherte. Lediglich seine Eltern schienen da eine andere Meinung zu vertreten, und baten zudem den Klammeraffen mit Bierflasche um eine gepflegtere Ausdrucksweise – zumindest so lange, wie der Sohnemann noch alle Antennen auf Empfang gestellt hat.

Wie dem auch sei, der Berg musste von Montag bis Freitag von den vier Rucksackträgern erklommen werden. Und das bereitete gemeinsam natürlich mehr Spaß als im Alleingang. Da Vasco auf diesem Schulweg noch nie Selma gesichtet hatte, ging er fest davon aus, dass sie auf der anderen Seite der Stadt wohnen musste, die wie mit einem Messer von der B41 und der Blies geteilt wird. So würde es unvermeidbar sein, dass kurz nach 12:00 Uhr sich ausnahmsweise ein Trio in Richtung Kirmesplatz auf den Weg ins Tal machte.
An sich wäre das kein Beinbruch, da unabwendbare Krankheiten wie Mumps, Windpocken oder eitrige Pickel am Hintern schon öfter das Quartett zeitweilig reduziert hatten. Doch als Grund ein Mädchen für seine eigene Unpässlichkeit anzugeben, das hatte es nie in dieser engen Männerfreundschaft gegeben. Also war es offensichtlich, dass er sich der Packung Hohn und Spott, die nun auf ihn warten würde, nicht mehr entziehen konnte.
Hannes dachte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Denn jetzt saß dieser Vasco gerade mal drei Tage neben einem Mädchen und schon begann er, den Verstand zu verlieren.
»Wer um Himmels willen hat dich denn auf die blöde Idee gebracht?«, wollte er von dem frisch geborenen Frauenversteher wissen.
»Die Lehrerin hat mich gefragt. Außerdem weiß ich gar nicht, ob ihre Mutter das zulässt. Es wird auch nicht ewig dauern.«
»Woher willst du das denn wissen? Es kann doch genauso gut sein, dass die so dumm wie Bohnenstroh ist. Dann kannst du mit deinem Hochdeutsch ihr unten in der Stadt die Wand tapezieren.«
Während Hannes das abtrünnige Verhalten seines Freundes noch immer nicht fassen konnte, blieben Kai und Dominik eher pragmatisch. Ersterer, der das Dilemma um Vascos fragwürdiger Ernährung nur zu gut kannte, hoffte inständig mit Vasco: »Vielleicht bekommst du dort endlich etwas Vernünftiges zu essen. Dann hat es sich doch schon gelohnt.«

Dominik dagegen sorgte sich weniger um die Ernährung, als um das nachmittägliche Vergnügen.
»Aber gebolzt wird nachher?«
»Ja klar.«
Sollte ein Interesse an der Erzählung um Selma und Vasco erweckt worden sein und eine Fortsetzung erwünscht wird, müsste dies dem Autor mit ein paar Worten übermittelt werden.
Ansonsten überlasse ich den verbliebenen Platz dem Wort, welches nur selten am Anfang zu finden ist:
Ende

